Der Ukraine-Krieg habe einen ganzen Kontinent ratlos gemacht. Von «kooperativer Neutralität» der Schweiz zu sprechen, sei ein Erfolg und keine Niederlage gewesen. Und er habe den nationalen Zusammenhalt stärken können: Ignazio Cassis zieht im Interview nach seinem Jahr als Bundespräsident Bilanz.
SRF News: In Ihrem Präsidialjahr marschierte Russland in der Ukraine ein und in Europa wurde die Energie knapp. Gab es Momente, in denen der Bundesrat ratlos war?
Ignazio Cassis: Ratlos war der Bundesrat nie. Aber Führen in der Krise ist nicht immer einfach.
Es gab aber schon einen Moment, als der Bundesrat ziemlich ratlos wirkte: direkt nach dem russischen Einmarsch.
Nach dem russischen Einmarsch war ein ganzer Kontinent ratlos. Wir haben nicht erwartet, dass diese militärische Aggression stattfindet. Und wenn, dann nur am Rande der Ukraine, und nicht gegen die Hauptstadt. Die ersten Stunden waren schwierig. Wir mussten Entscheide fällen, beispielsweise die Übernahme der Sanktionen. Und wir mussten in wenigen Stunden klären, welchen Impact das auf die Neutralität der Schweiz hat.
Nach dem russischen Einmarsch war ein ganzer Kontinent ratlos.
Sie wollten die Neutralität neu interpretieren, als «kooperative Neutralität». Doch der Bundesrat hat Sie gestoppt. War das Ihre grösste Niederlage in diesem Jahr?
Nein, das war keine Niederlage. Es war ein Erfolg. Beim WEF konnte ich durch die Betonung der Kooperation der Schweiz in der Aussen- und Sicherheitspolitik die internationale Diskussion beruhigen. Das war ja auch das Ziel. Und das hat dem Bundesrat ermöglicht, eine Auslegeordnung zur Neutralität zu machen: Wollen wir die Neutralität neu definieren? Oder wollen wir die Neutralität weiterhin nur als Instrument betrachten und dafür die Aussen und Sicherheitspolitik neu definieren? Der Bundesrat hat gewünscht, den zweiten Weg zu gehen. Ich kann das voll unterstützen.
Sie sagen, es sei ein Erfolg gewesen. Der grösste Erfolg wäre aber ein Durchbruch in der Beziehung zu Europa. Steht der kurz bevor?
Das ist jetzt zu früh zu sagen. Was ich sagen kann, ist, dass es auch in diesem Jahr wirklich positive Schritte gab. Wir konnten uns näherkommen bei verschiedenen schwierigen Elementen.
Es hiess, dass beim Lohnschutz und der Zuwanderung noch Potenzial bestehe oder dass die Schweiz da noch Zusicherungen möchte. Welche denn konkret?
Das sind eben genau die Bereiche, wo wir uns etwas angenähert haben. Wir sind noch nicht am Ziel, aber es sind Fortschritte.
Ein Ziel, das Sie sich gesteckt haben, war, den nationalen Zusammenhalt zu stärken. Finden Sie, das ist Ihnen gelungen?
Ich glaube, das ist gut gelungen. Der Krieg in der Ukraine hat die Reihen geschlossen. Das haben wir beispielsweise beim Spendentag gesehen, als die Schweizer Bürgerinnen und Bürger sehr grosszügig waren.
Da gab es viel Solidarität. Aber gleichzeitig war bei manchen Abstimmungen der Stadt-Land-Graben tief. Und nach der Bundesratswahl hiess es, die Untervertretung der Deutschschweiz sei ein Problem. Da gibt es Bruchlinien.
Sie haben eben von Zusammenhalt gesprochen. Der Gesamtbundesrat war zum ersten Mal in seiner Geschichte im Val Müstair, in Graubünden, war in Genf. Diese Diskussion, an die Sie jetzt denken, ist eine mediale Diskussion. Das Parlament ist nicht gross interessiert daran.
Im Iran werden Proteste brutal niedergeschlagen. Trotzdem hat die Schweiz die meisten Sanktionen gegen den Iran nicht übernommen.
Da muss ich Sie leider korrigieren. Die Schweiz hat die allermeisten Sanktionen gegen den Iran übernommen. Iran ist mehr oder weniger abgekoppelt von der Weltwirtschaft.
Da muss ich Sie leider korrigieren. Die Schweiz hat die allermeisten Sanktionen gegen den Iran übernommen.
Aber die Sanktionen im Zusammenhang mit den Protesten wurden nicht übernommen.
Das Einzige, das die Schweiz nicht übernommen hat, sind die Menschenrechtssanktionen. Aber das ist ein winziger Teil. Und wir haben aufs Schärfste verurteilt, was in Iran passiert.
Das Gespräch führte Larissa Rhyn.