Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich der Bundesrat schwer getan, eine klare Linie zu finden. Zwar hat er sofort die russische Aggression verurteilt; die EU-Sanktionen gegen Russland wollte er aber mit Verweis auf die Neutralität zunächst nicht übernehmen. Nach wenigen Tagen und viel Kritik kam der Positionswechsel. Die Schweiz trägt seitdem die Sanktionen doch mit.
Das passt zu einer grundlegenden Erkenntnis, die sich im Neutralitätsbericht des Aussendepartements findet:
Partnerstaaten bekunden Mühe, Sinn und Zweck einer neutralen Position zu verstehen.
Dieses Unverständnis zeigte sich auch gerade kürzlich wieder, als die Schweiz Mühe hatte mit der Frage, ob und welche ukrainischen Kriegsverwundeten sie aufnehme wolle.
Akzeptanzprobleme im Ausland
Die Schweizer Neutralität habe momentan ein Akzeptanzproblem – gerade bei den westlichen und demokratischen Staaten, stellt auch Oliver Diggelmann fest, Professor für Völker- und Staatsrecht an der Universität Zürich. Denn die Schweizer Politik werde häufig als zu wenig glaubwürdig und zu wenig gradlinig wahrgenommen.
«Für den Neutralen ist es heikel, wenn er im grossen Stil Waffen exportiert, die irgendwann in Kriegsgebieten auftauchen», sagt Diggelmann. Genauso heikel sei es, von den wirtschaftlichen Ausfällen sanktionierender Staaten zu profitieren. «Wir stehen noch immer zu sehr im Verdacht des Krisen- und Kriegsgewinnertums.»
EDA wirbt für «kooperative Neutralität»
Das Aussendepartement unter Führung von Bundespräsident Ignazio Cassis skizziert einen Weg, wie die Schweizer Politik wieder mehr Akzeptanz finden könnte. Das Schlagwort lautet «kooperative Neutralität».
Und im noch unveröffentlichten Neutralitätsbericht wird das auch konkretisiert:
Die Schweiz stimmt sich unter Einhaltung des Neutralitätsrechts verstärkt mit der EU oder der Nato ab.
Dabei soll es auch möglich sein, dass sich die Schweizer Armee an Nato-Übungen beteiligt oder dass Übungen auf Schweizer Boden stattfinden. Diese Zusammenarbeit sei auch im Schweizer Sicherheitsinteresse.
Heftiger Widerstand kommt hier von SVP-Politiker Christoph Blocher. Die Nato könne kein Partner der Schweiz sein, hält Blocher fest, und sagt in gewohnt scharfzüngiger Manier: «Gemeinsame Manöver mit der Nato darf es nicht geben. Denn wer gemeinsame Manöver macht, führt auch gemeinsam Krieg.»
Blocher ist überzeugt: Mit solchen Bestimmungen würde der Bundesrat nicht mehr so ins Schlingern kommen wie jetzt beim Ukraine-Krieg: «Es macht auf der ganzen Welt grossen Eindruck, wenn eine Regierung sagt: Ich kann nicht anders – unsere Verfassung, von Volk und Ständen abgesegnet, will nicht, dass wir zur Kriegspartei werden. Wir sind für die immerwährende, bewaffnete, umfassende Neutralität.»
Heisser Herbst steht bevor
Neutralität verlange eine gewisse Zurückhaltung, das sieht auch Völkerrechtler Diggelmann so. Die geplante Initiative geht ihm trotzdem zu weit. Denn man dürfe in der heutigen Welt eine Realität nicht verkennen: «Die EU ist nicht nur unser wichtigster Handelspartner und ein gigantisches Friedensprojekt. Sie ist friedenspolitisch auch unser Partner im Geist.» Dem müsse die Schweizer Aussenpolitik Rechnung tragen.
Die Debatte um die Schweizer Neutralität wird bald an Fahrt gewinnen: Im August soll der Bundesrat den Neutralitätsbericht – allenfalls mit gewissen Änderungen – offiziell verabschieden. Und Blochers Neutralitäts-Initiative soll im Herbst lanciert werden. Er sucht bereits Mitstreiter auch ausserhalb des eigenen politischen Lagers.