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Bund bekräftigt Entschuldigung Schweizer Fahrende sind Opfer von Verbrechen gegen Menschlichkeit

  • Ein Rechtsgutachten kommt zum Schluss, dass die Verfolgung der Jenischen und Sinti zwischen 1926 und 1973 nach heutigem Völkerrecht als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» zu bezeichnen ist.
  • Die Verfolgung Schweizer Jenischer im Rahmen des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» kann jedoch gemäss Gutachten nicht als Genozid im Sinn des völkerrechtlichen Genozidbegriffs bezeichnet werden.
  • Der Staat trägt nach heutigem Rechtsverständnis eine Mitverantwortung für die begangenen Taten.

Der Bundesrat hat die Ergebnisse des Rechtsgutachtens zur Kenntnis genommen. Er hat ein Schreiben an die Gemeinschaft der Jenischen und Sinti gerichtet, in der er die Entschuldigung des Bundesrates gegenüber den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen bekräftigt. Er betont, dass zu diesen Opfern auch die Jenischen und Sinti gehören.

Juristisches Gutachten in Auftrag gegeben

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2021 ersuchte die «Union des Associations et des Représentants des Nomades Suisses» (UARNS) den Bund um Anerkennung eines Völkermordes (Genozids) an den Schweizer Jenischen und Sinti in Zusammenhang mit dem «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse». Im Januar 2024 verlangte die Radgenossenschaft der Landstrasse die Anerkennung eines «kulturellen Genozids».

Angesichts der Schwere der Vorwürfe beschloss das EDI, einen unabhängigen Experten beizuziehen. Es beauftragte Prof. Dr. Oliver Diggelmann (Lehrstuhl für Völkerrecht, Europarecht, Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Universität Zürich) mit der Erstellung eines Rechtsgutachtens.

Der Auftrag hatte zum Ziel, zu klären, ob die Schweiz eine völkerrechtliche Verantwortung für die Verletzung der Tatbestände «Genozid» oder «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» gegenüber den Jenischen und Sinti trägt.

Die Vorsteherin des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI), Elisabeth Baume-Schneider, erinnerte an die Notwendigkeit, das erfolgte Unrecht nicht zu vergessen.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber kein Genozid

Schon in den 1990er-Jahren hatten Bundesrat und Parlament Wiedergutmachung beschlossen. Und der Bundesrat hatte sich 2013 entschuldigt. Dennoch verlangten die Jenischen in der Schweiz vor drei Jahren, dass die Verfolgung als Genozid – also als Völkermord – anerkannt wird. Das Rechtsgutachten des Zürcher Völkerrechts-Professors Oliver Diggelmann kommt aber zu einem anderen Schluss.

Rechtsgutachten

Demnach sind die Kindeswegnahmen, die beabsichtigte Zerstörung von Familienverbänden zur Eliminierung der fahrenden Lebensweise und zur Assimilierung der Jenischen und Sinti nach den heute geltenden völkerrechtlichen Standards als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» zu bezeichnen. Der Staat trägt dabei nach heutigem Rechtsverständnis eine Mitverantwortung.

Gutachten wird mit Befriedigung wahrgenommen

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Dass der Bundesrat die Verfolgung der Sinti und Jenischen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt, wird von den Organisationen und Exponenten dieser Volksgruppe mit Befriedigung aufgenommen. Das stelle den laufenden Dialog mit dem Bund auf eine neue und konstruktive Basis. Der Schritt sei wunderbar und öffne lange verschlossene Türen, sagte Isabella Huser, Jenische, Schriftstellerin und Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. Die Erklärung sei das Eingeständnis, dass eine Schweizer Volksgruppe systematisch und rassistisch motiviert verfolgt wurde – mit dem Ziel der Auslöschung dieser Gruppe. Den Jenischen gehe es um eine adäquate Anerkennung ihrer Geschichte und die Auseinandersetzung mit diesem Stück der Schweizer Geschichte.

Auch Willi Wottreng, der Geschäftsführer der Jenischen Radgenossenschaft der Landstrasse, des Dachverbandes der Jenischen und Sinti in der Schweiz, erklärte, es scheine, dass das vom Bundesrat bestellte Rechtsgutachten in die richtige Richtung gehe. Uschi Waser, Präsidentin der Organisation Naschet Jenische hofft nun, dass es mit den Stand- und Durchgangsplätzen für Fahrende in der Schweiz vorwärts gehe. Waser erklärte, Jenische die fahren wollten, sollten das tun können. Jede und jeder habe das Recht, seine Kultur leben zu können.

Ein (kultureller) Genozid liegt aus rechtlicher Sicht nicht vor. Einen Tatbestand «kultureller Genozid» gibt es im Völkerrecht nicht. Gemäss Rechtsgutachten ist auch kein Genozid im engeren Sinne gegeben, da die dafür notwendige «genozidäre Absicht» nicht gegeben ist.

Rund 600 Kinder fremdplatziert

Durch das Programm der Stiftung «Pro Juventute» kam es zwischen 1926 und 1973 zu Kindeswegnahmen. Rund 600 jenische Kinder wurden damals ihren Eltern weggenommen und unter Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien zwangsweise in Heimen, Erziehungsanstalten und bei Pflegefamilien versorgt. Betroffen waren auch Sinti.

Niemand wurde für den «genozidalen Straftatbestand» bestraft

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Professor Huonker am Schreibtisch mit Büchern.
Legende: Guido-Flury-Stiftung

Der Historiker Thomas Huonker hat intensiv an der Aufarbeitung der Geschichte der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz mitgearbeitet. In den letzten Jahrzehnten beschäftigte er sich im Speziellen mit den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, mit denen diese Gemeinschaften konfrontiert waren. Jetzt übt er auch Kritik am neuen Gutachten. Hören Sie das Interview mit Huonker aus «Echo der Zeit».

Erwachsene, die als Minderjährige fremdplatziert worden waren, wurden unter Vormundschaft gestellt, in Anstalten untergebracht, mit einem Eheverbot belegt und in Einzelfällen auch zwangssterilisiert.

Systematisch erfasst sind in erster Linie die Wegnahmen durch «Pro Juventute». Daneben waren auch kirchliche Hilfswerke und Behörden tätig, sodass von gegen 2000 Fremdplatzierungen ausgegangen werden muss.

Verflechtung mit Staat

Die Verfolgung der Jenischen und Sinti wäre ohne die Mithilfe staatlicher Behörden nicht möglich gewesen, wie das Gutachten aufzeigt. Es gab insbesondere enge personelle und finanzielle Verflechtungen zwischen dem Bund und der Stiftung «Pro Juventute».

Der Bund liess die Geschehnisse bereits aufarbeiten und leistete auch finanzielle Hilfe, sowohl an Opfer von Zwangsmassnahmen als auch an Organisationen von Sinti und Jenischen. Mit den Betroffenen will der Bund nun bis Ende 2025 klären, ob Bedarf besteht für eine weitere Aufarbeitung der Vergangenheit.

Bereits erfolgte Massnahmen

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  • 1983 veröffentlichte der Bund den Bericht «Fahrendes Volk in der Schweiz – Lage, Probleme, Empfehlungen». Im Jahr 1998 liess der Bund eine historische Studie über die Tätigkeiten des «Hilfswerks» erstellen.
  • Seit 1986 richtet der Bund jährlich Bundesbeiträge an die «Radgenossenschaft der Landstrasse » und seit 1997 auch an die Stiftung «Zukunft für Schweizer Fahrende» aus.
  • 1988 und 1992 bewilligte das Bundesparlament auf Antrag des Bundesrates insgesamt 11 Millionen Franken zur Wiedergutmachung für die Opfer des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse».
  • 2013 bat der Bundesrat alle Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 um Entschuldigung.
  • 2014 trat das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen in Kraft. Ausserdem wurde ein Soforthilfefonds errichtet.
  • 2017 trat das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 in Kraft. Es sieht namentlich Solidaritätsbeiträge an die Betroffenen (darunter auch Jenische und Sinti), die Beratung und Unterstützung der Betroffenen sowie die wissenschaftliche Aufarbeitung vor.
  • Mit den Betroffenen will der Bund nun bis Ende 2025 klären, ob Bedarf besteht für eine weitere Aufarbeitung der Vergangenheit.

SRF 4 News, 20.02.2025, 16 Uhr ; 

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