«Ich kann's noch nicht ganz fassen», sagte Rosmarie Wydler-Wälti, Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) beim Bund eine Verletzung der Menschenrechtskonvention in Klimafragen festgestellt hat.
Man wollte die Hoffnungen nicht hochschrauben, fürchtete man doch eine Enttäuschung. «Und jetzt sind wir wirklich beim Maximum angekommen», sagte die 74-Jährige überglücklich vor der internationalen Medienschar.
Heitere Stimmung hier, getrübte da: Für Bundespräsidentin Viola Amherd kam der Erfolg der über 2000 Pensionärinnen des Vereins Klimaseniorinnen überraschend. Der Schweiz seien nämlich Nachhaltigkeit, Biodiversität und das Netto-Null-Ziel «sehr wichtig», sagte Amherd, die zurzeit in Österreich weilt.
Die Begründung des Urteils interessiere sie, fügte Amherd an. Sie sei daher gespannt, die Details des Urteils zu lesen, und werde danach eine Stellungnahme abgeben.
Die nationalen Parteien haben die Rüge des EGMR unterschiedlich aufgenommen. Rot-Grün sowie Umweltverbände begrüssten den Richterspruch. Mitte-Rechts äusserte sich kritisch.
Für die Grünen bedeutet der Entscheid einen Paradigmenwechsel. Das Recht auf eine gesunde Umwelt sei gemäss dem Urteil ein Grundrecht, sagte die neue Parteipräsidentin Lisa Mazzone vor den Medien in Bern.
Das Urteil setze ein klares und verbindliches Zeichen, lasse aber die Mittel offen, um dieses zu erreichen. Den Grünen reicht nicht, was im Klimaschutzgesetz steht, das vergangenes Jahr an der Urne angenommen wurde.
Dieses Urteil ist eine Ohrfeige für den Bundesrat.
Für GLP-Präsident Jürg Grossen ist die Rüge aus Strassburg an die Adresse der Schweiz keine Überraschung: «Wir wissen, dass wir nicht genug für das Klima machen.» Es sei richtig, dass das nun auch international festgestellt worden sei. «Wir müssen unsere Hausaufgaben selber machen.»
Die SP sieht ihre Forderungen bestätigt. Sie verlangte in einer Mitteilung erneut öffentliche Investitionen für das Gelingen der Energie- und Klimawende, und sie kritisierte den Bundesrat für dessen Untätigkeit. «Dieses Urteil des höchsten europäischen Gerichts ist eine Ohrfeige für den Bundesrat», liess sich Mattea Meyer, SP-Co-Präsidentin, zitieren.
Kritik von Mitte-Rechts
Ganz anders ist der Tenor bei SVP, Mitte und FDP. SVP-Nationalrat Mike Egger (SG) nannte das Urteil «lächerlich». Es sei immer gefährlich, wenn Gerichte Politik machten.
Die Schweiz betreibe eine gute Umweltpolitik und investiere jedes Jahr Milliarden von Franken – mit Erfolg. «Wir haben uns in vielen Punkten verbessert und den Treibhausgasausstoss pro Kopf und auch den Erdöl- und Stromverbrauch deutlich gesenkt.» Dies bestätigten Zahlen des Bundes.
«Völlig unverständlich» ist das Urteil für den Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen. Das Gericht verstehe die Schweizer Demokratie nicht, sagte er mit Verweis auf das 2021 an der Urne abgelehnte CO₂-Gesetz. Den Bundesrat allein für dieses Nein verantwortlich zu machen, sei «ein Witz». Dank der direktdemokratischen Mittel könnten sich in der Schweiz die Menschen mit ihren Anliegen bemerkbar machen, so Wasserfallen. Eine im Vergleich zum CO₂-Gesetz ähnliche Gesetzesvorlage – das Klimaschutzgesetz – hatte die Bevölkerung im Sommer 2023 angenommen.
Ins gleiche Horn bläst wie Wasserfallen der St. Galler Mitte-Nationalrat Nicolò Paganini. Er schlägt den Klimaseniorinnen vor, eine Volksinitiative zu starten.