«Der wichtigste IV-Fall der letzten zehn Jahre», davon sprach Christian Haag. Der Anwalt, der für seinen Klienten eine Kehrtwende bei der IV verlangt hat. Am Mittwoch haben die beiden vor dem Bundesgericht verloren.
Haag ist enttäuscht. «Ich hätte mir erhofft, dass das Bundesgericht den Mut hat, anzuerkennen, dass die bisherige Gerichtspraxis Menschen mit Behinderungen diskriminiert und keinen fairen Zugang zu Leistungen der Sozialversicherungen ermöglicht.»
Ich hätte mir erhofft, dass das Bundesgericht den Mut hat, anzuerkennen, dass die bisherige Gerichtspraxis Menschen mit Behinderungen diskriminiert.
Konkret geht es um die Art und Weise, wie IV-Renten berechnet werden: Die IV vergleicht dazu den Lohn, den man ohne Gesundheitsproblem verdient hat, mit dem Lohn, den man trotz Invalidität noch verdienen kann. Aus dem Lohnunterschied berechnet die IV dann, wie viel Rente jemand bekommt.
Das Problem und die Konsequenz
Das Problem dabei: Der Lohn, den man trotz Invalidität noch verdienen könnte, stützt sich meist auf statistische Tabellen. Aber diese Statistiken werden mit Löhnen von gesunden Menschen gemacht. Menschen mit Beschwerden können diese Löhne kaum je erreichen.
Die Konsequenz: Die IV berechnet vielen eine viel zu tiefe Rente. Sozialversicherungsexperten kritisieren dies seit Jahren. Eine Änderung in der IV auf Anfang dieses Jahr hat die Probleme eher noch verschärft.
In seinem Urteil vom Mittwoch hält das Bundesgericht nun an dieser Berechnungsart fest. Es kritisiert jedoch gleichzeitig die Lohnstatistiken sehr direkt.
Nur: Es sei nicht Aufgabe des Bundesgerichts, dies zu korrigieren. Es sei Aufgabe des Bundesamtes für Sozialversicherungen, das für die IV zuständig ist. Dieses müsse schleunigst über die Bücher und für die Zukunft etwas ändern.
Petra Kern, Juristin bei Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen, hat dieser Kritik im Gerichtssaal sehr genau zugehört: «Ich habe herausgehört, dass es bald etwas Neues braucht. Der Handlungsbedarf ist gross.»
Der Appell an das Bundesamt für Sozialversicherungen: Dass es «die Arbeiten so schnell wie möglich an die Hand nimmt. Und nicht erst wie in Aussicht gestellt 2025», so Kern. Denn bis 2025 kämen jedes Jahr über 10'000 Personen dazu, die fälschlicherweise keine oder zu wenig IV-Rente bekämen.
Kritik aus Juristenkreisen
Die Vertreter von Betroffenen sind mit dieser Forderung nicht alleine. Auch Juristinnen und Juristen kritisieren die Lohnberechnungen der IV seit langem. Thomas Gächter, Professor an der Universität Zürich, hat vor einem Jahr aufgezeigt, dass die Löhne, welche die IV mithilfe dieser Tabellen berechnet, etwa 15 Prozent zu hoch sind, die Renten darum zu tief.
Auch er fordert das Bundesamt für Sozialversicherungen zum Handeln auf: «Es ist zu hoffen, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen die Aufgabe rasch und beherzt an die Hand nimmt.» Denn die heutige Berechnung sei offenkundig nicht mehr lange haltbar. «Es wäre zu wünschen, dass wir auf einer rationaleren Basis entscheiden können.» Es brauche also schnell neue, realistischere Lohntabellen.
«Schnelligkeit alleine ist keine Lösung»
Beim angesprochenen Bundesamt für Sozialversicherungen sagt Stefan Ritler, der Zuständige für die IV, allerdings: «Die Schnelligkeit alleine ist keine Lösung.» Man brauche Erfahrungswerte. «Diese Tabelle ist nicht derart trivial, dass man im Handumdrehen eine neue Tabelle auf die Beine stellt. Wir sind im Kontakt mit dem Bundesamt für Statistik.» Konkretes sei in Planung.
Trotz offensichtlichen Mängeln, die nun auch das Bundesgericht anerkannt hat, dürften die IV-Renten so schnell also nicht fairer berechnet werden.