Krieg, Energiekrise, Inflation und Hitze: Ignazio Cassis steht in einer besonders ruppigen Zeit als Bundespräsident auf der Kommandobrücke des Schiffes Schweiz. Wie kommen wir als Gesellschaft möglichst gut durch all die Krisen? Wie wichtig ist die Neutralität für unsere Identität? Aber auch: Welche Erfahrungen haben Ignazio Cassis geprägt?
Der Bundespräsident beantwortete die Fragen von Nathalie Christen im «Gespräch zum 1. August» im Dorf Sessa (TI), wo Cassis zusammen mit drei Schwestern aufwuchs. Hier ein Ausschnitt aus dem Gespräch.
SRF News: Was ist die prägendste Jugenderinnerung, die Sie mit Sessa verbinden?
Ignazio Cassis: Zum einen das gemeinsame Spiel auf dem Kirchenvorplatz unter Aufsicht des Pfarrers, der auch die Spielzeuge zur Verfügung stellte. Gemeinde und Kirche waren damals fast das Gleiche. Und zum anderen mit elf Jahren die Aufnahme in die Dorfmusik, zuerst am Flügelhorn, später als Trompeter.
Und Ihr Unfall, bei dem Sie den kleinen Finger so stark verletzten, dass Ihr Vater Sie ins Spital fuhr und sie dort stundenlang alleine auf die Amputation warten liess?
Das prägte mich auch sehr stark, aber das ist weniger positiv. Ich war dreizehn. Ich war ein Luusbueb, sprang über einen Zaun, und da ist der Finger hängen geblieben im Zaun. Damals existierte die Mikrochirurgie noch nicht und man fand: Ein Finger weniger, das ist kein Problem, damit kommt man trotzdem durchs Leben.
Hat Sie das härter gemacht im Nehmen? Als Bundespräsident müssen Sie harte Kritik einstecken.
Das würde ich damit nicht verbinden. Aber die Eigenständigkeit habe ich von meinem Vater. Er liess mich in schwierigen Situationen alleine, damit ich meinen Weg finde – war aber immer verfügbar, falls es nicht gegangen wäre. Er hat den guten Mix gefunden, um mich nicht zu verwöhnen, sodass ich lernte, mit den Schwierigkeiten des Lebens umzugehen.
Musik gibt mir Harmonie und Freude. Und die Religion Bezugspunkte und Werte.
Sie dienten als Ministrant und waren Trompeter: Wovon lebt in Ihnen heute noch mehr?
Beides. Musik ist wesentlich in meinem Leben, gibt mir Harmonie, Hoffnung, Freude. Und die Religion gibt mir Bezugspunkte, Werte.
Man könnte auch sagen: Ministrant steht für den Dienst an der Gemeinschaft, der Trompeter fürs Hinstehen und den Marsch blasen. Was davon können Sie im Bundesrat brauchen?
Mit der Trompete ein Solo zu spielen, war ein erster Schritt, die Angst zu überwinden, vor Publikum etwas zu tun. Das war natürlich gut für die politische Karriere. Als Ministrant ein Diener zu sein, ist zutiefst verwurzelt in meiner Erziehung – im Dienste des Staates, der Kirche, der Gemeinschaft zu sein. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich überhaupt Politiker geworden bin.
Im Dienste des Staates, der Kirche, der Gemeinschaft zu sein, ist wahrscheinlich der Grund, warum ich Politiker geworden bin.
Wie wichtig ist die Neutralität für die Schweizer Identität?
Die Neutralität ist, wie viele Schweizer Institutionen, ein Bindeglied für dieses Land. Wir brauchen diese Bindeglieder, weil wir zu unterschiedlichen Kulturen und Sprachräumen gehören. Darum ist auch in keinem Land die Regierung so wichtig für die Identität der Bevölkerung wie in der Schweiz der Bundesrat. Und in keinem Land ist ein rechtliches Element wie die Neutralität so wichtig für die Identität der Bevölkerung wie in der Schweiz.
Wie diese Neutralität gelebt werden soll, ist seit dem Ukraine-Krieg sehr umstritten. In einem noch unveröffentlichten Bericht schlagen Sie dem Bundesrat eine kooperative Neutralität vor, die militärische Übungen mit der Nato und der EU beinhaltet. Warum?
Weil die Welt und die Bevölkerung sich ändern. Im Lauf der Zeit hat die Schweizer Bevölkerung bei jeder Krise eine grosse Debatte über die Neutralität geführt und diese wieder angepasst. Der Bericht soll die öffentliche Diskussion strukturieren und den Bundesrat auffordern, sich zu positionieren. Ich darf nicht viel über den Bericht erzählen, der Bundesrat muss sich zuerst damit befassen. Mit dem Begriff kooperative Neutralität drücke ich eine Haltung aus. Wir werden unsere Eigenständigkeit nie bewahren können, ohne Zusammenarbeit mit gleich denkenden Ländern.
Christoph Blocher plant eine Volksinitiative zur Neutralität, welche Sanktionen wie jene gegen Russland verbieten würden. Was halten Sie davon?
Ich begrüsse jede Volksinitiative als Instrument der öffentlichen Debatte. Es ist wichtig, dass sich die Schweiz dreissig Jahre nach dem Berliner Mauerfall noch einmal fragt: Was heisst es, neutral zu sein? Denn der harte Kern der Neutralität ist das Recht. Aber die Politik um diese rechtliche Neutralität herum muss angepasst sein an die Zeit.
Ich begrüsse jede Volksinitiative als Instrument der öffentlichen Debatte.
Werden Sanktionen heikler, je mächtiger das betroffene Land ist? Die EU-Sanktionen gegen Syrien zu übernehmen, war noch kein grosses Thema, bei Russland schon. Und was, wenn es eines Tages China beträfe?
Es gibt mehrere Kriterien für die Positionierung der Schweiz. Eines ist sicher die Macht des Landes. Aber viel wichtiger ist das Kriterium der geografischen Nähe. Was uns geografisch nahe ist, betrifft uns enorm viel mehr als etwas weit weg in der Welt.
Das würde also gegen Sanktionen gegen China sprechen, sollte dies je ein Thema werden? In Wirtschaftskreisen wird dies diskutiert.
Das ist genau die öffentliche Debatte über die Neutralität, die geführt werden muss.
Neben dem Ukraine-Krieg gibt es noch die Klima- und die Energiekrise, die Inflation, und was uns im Herbst mit Corona erwartet, ist auch offen. Was davon beunruhigt Sie am meisten?
Die Sicherheit, dass wir lernen müssen, mit der Unsicherheit umzugehen. Ich glaube, wir waren in meinem Leben noch nie in einer Phase, die mit so viel Unsicherheit verbunden war. Wir sind uns das nicht gewöhnt.
Wir müssen lernen, mit der Unsicherheit umzugehen.
Was brauchen wir als Gesellschaft, um das möglichst gut durchzustehen?
Respekt, Toleranz, Vertrauen in die Institutionen und Neugier auf das Neue.
Zum Schluss: Ihr Geburtstagswunsch für die Schweiz?
Dass es uns gelingt, weiterhin diesen Fleiss, diese Verantwortung und diese Demut an den Tag zu legen, die es uns ermöglicht haben, aus unserem Land das Paradies zu machen, das es heute ist.
Das Gespräch führte Nathalie Christen.