Ein Mann geht durch die Reihen des Nationalratssaals und raunt allen zu: «Stich wählen!» Dabei ist Otto Stich gar nicht offizieller Kandidat. Er ist nicht mal im Saal. Doch die Mehrheit der Bundesversammlung wählt ihn trotzdem – statt der offiziellen Kandidatin Lilian Uchtenhagen.
Es ist 1983 nicht das erste Mal, dass ein Bundesrat gewählt wird, der nicht von seiner Partei vorgeschlagen wurde. Doch es ist eine Premiere, dass jemand über Nacht als Kandidat aufgebaut wurde. Es ist die Geburtsstunde von vielen Mythen und Geschichten rund um die Nacht vor der Bundesratswahl, die auch vor der kommenden Wahl am Mittwoch hervorgeholt werden.
1983 steht Nationalrätin Uchtenhagen als einzige offizielle Kandidatin zur Wahl. Sie wäre bei einer Wahl die erste Bundesrätin. Doch sie sei umstritten gewesen, sagt Historiker Urs Altermatt. Die Kandidatur Uchtenhagens sei von Parteipräsident Helmut Hubacher «ungestüm, vielleicht sogar etwas autoritär» durchgesetzt worden.
«Plötzlich begann man an der Kandidatur Uchtenhagen herumzunörgeln», führt Altermatt aus. Bürgerliche kritisierten sie als zu intellektuell. «Man setzte viel härtere Massstäbe an als bei Männern.»
Viele Bürgerliche wollen also nicht Uchtenhagen wählen und suchen deshalb eine Alternative. Lange im Rennen ist Bundeskanzler Walter Buser. Doch am Abend vor der Wahl sagt er ab. Historiker Urs Altermatt ist überzeugt: «Man hätte Buser gewählt, wenn er kandidiert hätte.»
Otto Stich hatte den Kopf, das durchzustehen.
Weil Busers Absage kurzfristig kommt, muss ein anderer Kandidat gefunden werden. «Deshalb war die Nacht so wichtig», erklärt der Historiker. Gesucht ist nun jemand, dem zugetraut wird, sich dem Druck der Parteileitung zu widersetzen.
«Otto Stich hatte den Kopf, das durchzustehen», meint Urs Altermatt. Eine wichtige Rolle spielt dabei FDP-Nationalrat Felix Auer. Er weibelt bei Parlamentariern für seinen Studienfreund Stich und führt Überzeugungstelefonate.
Auer ist es auch, der durch die Reihen im Nationalrat geht und die Politiker mit der Parole «Stich wählen!» zur Stimmabgabe für den Solothurner animiert. So erinnert sich auf jeden Fall der damalige SVP-Präsident Adolf Ogi heute an die Wahl 1983.
Mit Polizeieskorte nach Bern
Die Wahl von Otto Stich ist mit 124 Stimmen gegen 96 für Lilian Uchtenhagen deutlich. Gleich nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses merkt Nationalratspräsident André Gautier an: «Otto Stich wird in etwa 45 Minuten hier eintreffen und seine Erklärung zur Wahl abgeben.»
Die Wahl am 7. Dezember 1983
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Bild 1 von 4. Otto Stich steigt aus einem Auto vor dem Bundeshaus. Der Solothurner musste nach seiner Wahl zunächst von seinem Arbeitsplatz in Basel nach Bern gefahren werden. Dabei wurde er von einer Polizeieskorte begleitet. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 4. Obwohl die SP-Parteileitung gegen ihn war, nimmt Otto Stich die Wahl zum Bundesrat an. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 4. Der Solothurner Politiker war zwar 20 Jahre lang Nationalrat. Als er aber in den Bundesrat gewählt wird, ist er nicht mehr im Amt. Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 4. Der Bundesrat präsentiert sich 1983 weiterhin ohne Frau: Jean-Pascal Delamuraz, Rudolf Friedrich, Kurt Furgler, Leo Schlumpf, Pierre Aubert, Alfons Egli und Otto Stich (von links nach rechts). Bildquelle: Keystone.
Otto Stich nimmt seine Wahl an, erklärt aber: «Ich habe mich nicht um das Amt gerissen. Und eine Frau würde zweifellos dem Bundesrat wohl anstehen.» Und er blickt bereits voraus auf Kritik, die ihn in den nächsten Tagen in den Medien erwartet, wo er als «Ladykiller» gebrandmarkt wird. «Viele Frauen werden enttäuscht sein, auch weite Teile meiner Partei.»
Der Mythos zur Nacht vor der Wahl sei 1983 entstanden, sagt Urs Altermatt. In den letzten Jahren habe die Nacht aber an Wichtigkeit eingebüsst. Der Druck der Parteileitungen auf wilde Kandidierende habe seit der Abwahl von Christoph Blocher massiv zugenommen.
Trotzdem kursieren vor der diesjährigen Wahl viele Gerüchte. Nach der letzten wilden Bundesrätin – Eveline Widmer-Schlumpf – folgten zwar aufwühlende Jahre. Doch mittlerweile sei wieder Ruhe eingekehrt, meint Altermatt. Deshalb schliesst er einen Stich-Moment nicht komplett aus: «Es kommt wieder etwas Bewegung in die Sache.»