Die Vereinigte Bundesversammlung hat am Mittwoch der zweiten Sessionswoche den neuen Bundespräsidenten für das nächste Jahr gewählt. An der Reihe ist Aussenminister Ignazio Cassis. Es ist sein erstes Präsidialjahr. Der 60-jährige Tessiner Arzt ist vor allem in seinem Heimatkanton beliebt, in Bern stösst er auf viel Kritik – bisher.
Wird Cassis Sympathien gewinnen?
Als Bundespräsident könnte er das nun ändern und Sympathien gewinnen, wie schon sein Vorgänger Guy Parmelin, Bundespräsident 2021. Bloss, wie soll Cassis das anstellen und was erwartet man im Bundeshaus von einem Bundespräsidenten Cassis?
Sein Wirken als Aussenminister ist von Niederlagen und Rückschlägen geprägt, am sichtbarsten im Europadossier. Seine Erfolge verblassen daneben – etwa das Treffen von US-Präsident Joe Biden und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin im letzten Juni in Genf.
Erwartungen halten sich in Grenzen
Doch im Bundeshaus sagt niemand offen etwas Kritisches über den künftigen Bundespräsidenten Cassis. Manche schimpfen ein wenig in der Wandelhalle, aber ins Mikrofon reden, nein, auf gar keinen Fall. Einer sagt, «Ke Luscht», aber Bundesrat Ueli Maurer ist es nicht.
Herr Cassis ist ein Bundesrat, der die Wirtschaft über die Menschenrechte gestellt hat in der Aussenpolitik. Da habe ich natürlich Zweifel, ob er in seiner Funktion als Bundespräsident die ganze Bevölkerung vertreten kann.
Für die SP äussert sich Aussenpolitiker Fabian Molina, der sich für gute Beziehungen mit der EU einsetzt. Cassis habe wenig erreicht und die grösste Blockade in der Europapolitik verursacht. «Herr Cassis ist ein Bundesrat, der die Wirtschaft über die Menschenrechte gestellt hat in der Aussenpolitik. Da habe ich natürlich Zweifel, ob er in seiner Funktion als Bundespräsident die ganze Bevölkerung vertreten kann», sagt er.
Aussenpolitiker fordern, dass Cassis sein zerstrittenes Bundesrats-Kollegium zum Thema EU weiter bringt. Auch Cassis' Parteikollegen erwarten Resultate zu Europa. Dabei könne der Aussenminister und Bundespräsident bald beide seiner Funktionen nutzen, hofft Fraktionschef Beat Walti. «Vielleicht ist es eine Chance, dass der Bundespräsident auch jener ist, der mit der Spitze der EU protokollarisch zusammentreffen kann. Das eröffnet vielleicht gewisse Möglichkeiten, wenn der Rest des Bundesrates auch mitzieht.»
Vielleicht ist es eine Chance, dass der Bundespräsident auch jener ist, der mit der Spitze der Europäischen Union protokollarisch zusammentreffen kann.
Ein gutes Verhältnis mit der EU ist für FDP-Nationalrätin Christa Markwalder zentral. Als Bundespräsident müsse Cassis das erreichen, was ihm bis jetzt nicht gelungen sei: Seine Bundesrats-Kollegen mit einer Strategie für Europa zu überzeugen. «Die Erwartungen sind hoch, es liegt nicht allein an ihm, aber es liegt an ihm, das Gremium zu führen und entsprechende Entscheide auch vorzubereiten, sodass sie das Gremium passieren und dass er sie auch gegen Aussen kommunizieren kann.»
Bundespräsidentschaft als Chance
Alle Befragten unterstreichen die offene, allürenfreie Art des Tessiners. Er habe mehr Wertschätzung verdient, finden Parteifreunde. Als Arzt könne er gerade in der Coronakrise glaubwürdig auftreten, sagen die meisten.
Wie Bundespräsident Parmelin werde auch Cassis alle überraschen: «Ich glaube, dass er seine gute Art als Tessiner ins Spiel bringen wird und so dazu beitragen kann, wieder eine Verständigung im Land herbeiführen kann», sagt etwa Mitte-Ständerat Stefan Engler.
SVP-Nationalrätin Stefanie Heimgartner ist überzeugt, Cassis werde seinen Job gut machen. Er erhalte jetzt die Chance, sich besser zu positionieren, und diese werde er sicher nutzen.
Ich denke, er wird sich einen Namen machen. (...) Ich traue ihm das Amt zu.
«Ich denke, er wird sich einen Namen machen. Er wird dann als Bundespräsident auch ein anderes Format haben, er wird staatsmännisch auftreten können. Ich traue ihm das zu und wir sind gespannt», erklärt Heimgartner.