Der Bartgeier, der grösste Vogel Europas, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts im gesamten Alpenraum ausgerottet. Die Menschen glaubten damals, er sei ein Beutegreifer und würde Lämmer und sogar Kinder rauben. Erst durch gezielte Auswilderungen seit den 1980er-Jahren konnte sich die Art wieder ansiedeln.
Wiederansiedlung des Bartgeiers in der Schweiz
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Bild 1 von 5. Wiederansiedlung in Graubünden: Zwei Parkwächter setzten 1992 die Bartgeier im Nationalpark aus. Bildquelle: KEYSTONE/ARNO BALZARINI.
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Bild 2 von 5. Hunderte schaulustige Nationalparkbesucher wollten die Freilassung der Tiere am Ofenpass miterleben. Bildquelle: KEYSTONE/ARNO BALZARINI.
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Bild 3 von 5. Auf diesem Bild sieht man, wie Bartgeier im Jahr 2018 von der Tannalp zur Auswilderungsnische am Huetstock im Kanton Obwalden gebracht wurden. Bildquelle: KEYSTONE/SEVERIN BIGLER.
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Bild 4 von 5. Die Stiftung Pro Bartgeier verfolgt mit der Auswilderung am Huetstock das Ziel, die Wiederansiedlung des Bartgeiers in der Zentralschweiz zu fördern. Bildquelle: KEYSTONE/ALEXANDRA WEY.
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Bild 5 von 5. Immer wieder ein Spektakel für Vogelliebhaber: Im Jahr 2010 wurden oberhalb der Malanseralp im St. Gallischen Vättis junge Bartgeier ausgesetzt. Bildquelle: KEYSTONE/ENNIO LEANZA.
Heute leben schätzungsweise 344 Bartgeier in den Alpen. In den nächsten zehn Jahren könnte sich die Zahl verdoppeln.
Erfolgreiche Wiedereinbürgerung – aber nicht überall
Die Bartgeier vermehren sich mittlerweile erfolgreich in der Wildnis. Im Kerngebiet, den Zentral- und Nordwestalpen, das sich von Ostfrankreich bis ins Engadin erstreckt, wächst die Population stabil. Hier bieten die dichte Alpensteinbock-Population und die idealen Kalksteinformationen beste Voraussetzungen. «Deshalb geht es dem Bestand des Bartgeiers grundsätzlich gut», erklärt Livio Rey von der Schweizerischen Vogelwarte Sempach. Die Organisation ist Teil der Studie, die die Wiederansiedlung des Vogels wissenschaftlich begleitet hat.
Die Population hat noch lange nicht ihre natürliche Grösse erreicht.
In den südlichen und östlichen Alpen sieht die Lage anders aus. Die Sterblichkeitsrate ist höher und die Fortpflanzung gestaltet sich schwieriger. Das führt dazu, dass die Population nur langsam wächst oder stagniert. «In dieser Region geht es dem Bartgeier noch nicht so gut. Er ist dort auf die Zuwanderung von Vögeln aus dem Kerngebiet angewiesen», so Rey.
Todesursachen: Menschliche Gefahren dominieren
Laut einer Studie der Schweizerischen Vogelwarte Sempach, der Stiftung Pro Bartgeier und der Universität Bern sterben in den Randgebieten mehr erwachsene Bartgeier als im Kerngebiet. Die Gründe sind vielfältig: Ein wesentlicher Faktor sind Vergiftungen. Immer wieder werden Bartgeier Opfer illegal ausgelegter Gifte. Wobei die Menschen, welche die Gifte illegal ausbringen, es eigentlich auf Grossraubtiere wie Wölfe abgesehen haben.
Zudem stellen Kollisionen mit Stromleitungen und Windkraftanlagen eine grosse Gefahr dar. Auch die Wilderei bleibt ein Problem: Immer wieder werden Bartgeier illegal geschossen, obwohl sie streng geschützt sind.
Ausserdem könne sich der Tourismus negativ auf den Bestand auswirken, erklärt der Naturschutzbiologe. Kletterer, Gleitschirmflieger oder Drohnen können die Vögel beim Brüten stören.
Wird die Population ohne Hilfe überleben?
Die Studie zeigt: Wenn die Sterblichkeit nicht ansteigt, könnte sich die Population in den nächsten zehn Jahren verdoppeln. Diese Prognose basiert auf demografischen Parametern – also dem Überleben, der Fortpflanzung und der Ausbreitung der Vögel. Ein solch starkes Wachstum sei jedoch nur möglich, weil der Bestand derzeit noch klein ist. «Das bedeutet, dass die Population noch lange nicht ihre natürliche Grösse erreicht hat», so Rey.
Doch sobald die Todesrate über 5.5 Prozent steigt, droht erneut ein Rückgang. Derzeit liegt die jährliche Sterblichkeitsrate bei etwa 3.1 Prozent für erwachsene Bartgeier im Kerngebiet und 8.1 Prozent in der Peripherie.
Im Kerngebiet ist die Population weitgehend selbsterhaltend. Vorausgesetzt, die Sterblichkeit bleibt niedrig. In den Randgebieten hingegen bleiben weitere Auswilderungen notwendig, um den Bestand zu sichern.
Schutzmassnahmen dringend nötig
Naturschutzorganisationen fordern deshalb, dass mehr gegen illegale Vergiftungen und Wilderei unternommen wird. Zudem müssten Stromleitungen besser gesichert und Standorte für Windkraftanlagen gezielter ausgewählt werden.