Zu Beginn der Coronakrise war sich der Bundesrat schnell einig. Er handelte entschlossen und verhinderte dabei wohl den Kollaps des Schweizer Gesundheitswesens. Auch wenn da und dort der Eindruck entstanden ist, dass das Ziel womöglich mit weniger drastischen Massnahmen zu erreichen gewesen wäre – erwiesen ist das keinesfalls.
Auch in der Schweiz verdoppelten sich die Fallzahlen anfänglich innert weniger Tage. Hätten die Massnahmen erst ein paar Tage später gegriffen, hätte sich die Lage viel dramatischer entwickeln können.
Drastische Massnahmen, schnelle Lockerung
Die Massnahmen hatten ein klares Ziel: Das Gesundheitswesen sollte jederzeit in der Lage bleiben, allen Erkrankten die bestmögliche Pflege zukommen zu lassen und so Menschenleben zu retten.
Seit klar ist, dass dieses Ziel erreicht würde, verschob sich der Fokus. Immer deutlicher wurden die negativen wirtschaftlichen Folgen. Und damit rückte die Güterabwägung zwischen öffentlicher Gesundheit und wirtschaftlichen Interessen in den Vordergrund.
Es liegt in der Natur dieser Abwägung, dass die Meinungen dabei auseinandergingen. Die Wirtschaft, namentlich die Gastro-Branche, machte Druck auf den Bundesrat. Auch aus den Parlaments-Kommissionen kam der Ruf nach einer Kurskorrektur.
Bereits vor der ausserordentlichen Session diese Woche kippte im Bundesrat die Mehrheit. Am Ostermontag noch hatte Bundesrat Berset bekräftigt, eine zweite Epidemie-Welle verhindern zu wollen. Am Mittwoch musste er dann die schnellstmögliche Lockerung verkünden.
Fast täglich neue Ankündigungen
Seither folgen fast täglich neue Ankündigungen, Präzisierungen und Korrekturen: Grosseltern dürfen ihre Enkelkinder wieder umarmen. Es folgte ein Streit unter Experten, richtigen und selbsternannten, wie sinnvoll das sei.
Eine Applikation für das Mobiltelefon sollte helfen, künftige Infektionsketten zurückzuverfolgen. Doch das Parlament verlangt eine gesetzliche Grundlage. Nun ist die App auf einmal nicht mehr so dringlich und wichtig.
Oder die Gastronomie: Sie darf schneller wieder öffnen dank eines Schutzkonzepts, das die Registrierung sämtlicher Gäste vorsieht. Heute heisst es, nur für jene, die das wollen. Der Datenschützer hatte erfolgreich interveniert.
Nun geht es nicht mehr darum, eine lückenlose Gästeliste zu führen, sagte Bundesrat Berset, sondern darum, dass im Fall einer Infektion beim Personal die Gäste kontaktiert werden können. Man hatte gedacht, dass genau das der Zweck einer möglichst lückenlosen Gästeliste gewesen wäre.
Was gilt noch?
Und schliesslich die heutige Ankündigung, dass sich Angehörige der Risikogruppen, namentlich ältere Menschen, wieder frei bewegen dürften. Erstens war das ihnen gar nie verboten. Doch die dringliche Empfehlung war, zuhause zu bleiben. Nun ist das BAG offenbar daran, diese Empfehlung zu überarbeiten, wie Daniel Koch bekanntgab. Das Ansteckungsrisiko sei auch für die Vulnerablen gesunken.
Diese Ankündigung zwei Tage vor dem Muttertag sollte an sich alle Mütter freuen, die zu einer Risikogruppe gehören. Doch gilt das jetzt schon? Oder soll man noch auf die überarbeiteten Empfehlungen warten? Was gilt eigentlich noch, was nicht mehr?
Mit Verweis auf die Eigenverantwortlichkeit machen es sich die Experten und der Bundesrat zu einfach. Eigenverantwortlich handeln kann nur, wer Chancen und Risiken abschätzen und die Folgen für sich und die Gesellschaft beurteilen kann. Unklare Signale von höchster Stelle sind dabei wenig hilfreich.