«Wir sind verzweifelt», wendet sich eine Hörerin an die Redaktion des SRF-Konsumentenmagazins «Espresso». Seit Dienstag herrsche im Demenz-Pflegeheim, wo ihre Mutter lebt, ein totales Besuchsverbot. Diese Massnahme sei nötig, um die Bewohnerinnen und Bewohner vor dem Coronavirus zu schützen, liess das Berner Demenz-Pflegeheim Domicil Bethlehemacker die Besucher wissen. Bis Ende März seien keine Besuche mehr erlaubt.
«Es ist wie in einem Albtraum! Wir dürfen nicht zu meiner 94-jährigen Mutter, sie kann nicht zu uns, das drückt mir das Herz ab.» Bisher haben sie und ihre Schwester die demente Mutter dreimal täglich zu den Mahlzeiten besucht und ihr beim Essen geholfen. Auch andere Familien wenden sich an «Espresso», verzweifelt, weil sie ihre Angehörigen nicht mehr besuchen dürfen.
Domicil-Gruppe: «Schutz der Bewohner hat oberste Priorität»
«Espresso» fragt bei der Domicil-Gruppe nach, weshalb das Unternehmen derart drastische Massnahmen ergreift, zu einem Zeitpunkt, wo das Bundesamt für Gesundheit (BAG) kein solches Besuchsverbot in Alters- und Pflegeheimen erlässt.
CEO Andrea Hornung schreibt «Espresso»: «Dass das Besuchsverbot bei den Angehörigen eine schwere Auflage ist, die nicht für alle nachvollziehbar ist, ist uns bewusst. Unser Entscheid, externe Besuche nur in absoluten Ausnahmesituationen zuzulassen, basiert auf einer Interessen- und Risikoabwägung, die wir unter Berücksichtigung der verfügbaren Informationen und unter Berücksichtigung der besonderen Gefährdungssituation der Bewohnenden vorgenommen haben. Der Schutz unserer Bewohnerinnen und Bewohner hat für uns oberste Priorität.».
«Der Kontakt zu Angehörigen ist ein Menschenrecht»
Anders beurteilt der ehemalige Stadtarzt von Zürich, Albert Wettstein, das strikte Besuchsverbot. Er ist Leiter der Fachkommission Zürich der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA). «Im Prinzip ist es richtig, dass Heime Besuche einschränken.» Gerade jüngere Leute sollten auf Besuche verzichten, da sie das Virus eher in sich tragen und ältere Menschen gefährden würden.
«Aber jede Massnahme muss verhältnismässig sein und muss individuelle Gesuche speziell berücksichtigen.» Der menschliche Kontakt sei ein Menschenrecht, und gerade bei dementen Menschen könne der Unterbruch von regelmässigen Kontakten, sogar gefährlich sein: «Dieser Unterbruch kann zu einem Delir und zum Tod führen.»
Auch die Schweizerische Patientenorganisation (SPO) kritisiert gegenüber «Espresso» das strikte Besuchsverbot in den Domicil-Pflegeheimen. Hier sei die Verhältnismässigkeit nicht gegeben, schätzt SPO-Mediziner Daniel Tapernoux ein.
Angehörige können Beschwerde einreichen
Albert Wettstein von der UBA rät Angehörigen, welche ihre dementen Eltern oder Ehepartner in Pflegeheimen nicht mehr besuchen dürfen, sich an Beschwerdestellen zu wenden. «Es braucht eine neutrale Instanz, welche die individuelle Gefahrenabwägung macht.» Dies gehe über die UBA oder auch als Rekurs bei der entsprechenden Gesundheitsdirektion.
Kontakt
Espresso, 06.03.20, 08.13 Uhr