«Pentagon», so nennen manche das karge Gebäude im Osten von Bern, das umrahmt ist von Stacheldraht. Das klingt sagenumwobener als «Sitz des Nachrichtendienstes des Bundes».
Hier treffen sich die Expertinnen und Experten des Bereichs Terrorismus in einem Sitzungszimmer, das aussieht wie jedes andere. Einziger sichtbarer Unterschied: Neben der Tür steht ein überdimensioniertes Einmachglas. Darin landen alle Smartphones. Die eingebaute Technik soll Abhörversuche vereiteln.
Das Thema des Tages: Ein möglicher Gefährder hat Bilder von IS-Flaggen und Waffen online geteilt. In den sozialen Medien nennt er sich Mohammed. Die Details sind fiktiv, der Fall aber gemäss NDB typisch.
«Welche Massnahmen ergreifen wir?», fragt ein Analyst. «Wir werden sein Netzwerk aufklären und prüfen, ob wir eine Observation im öffentlichen Raum beantragen.» Die Antwort kommt von Michelle – ein Deckname, unter dem die NDB-Mitarbeiterin SRF Auskunft gibt.
Doppelt so viele Überwachungen
Michelles Auftrag ist es, Informationen zu beschaffen. Manchmal im direkten Gespräch mit möglichen Gefährdern, manchmal, indem sie diese heimlich in der Öffentlichkeit beobachtet.
2022 hat der NDB 95 Überwachungen angeordnet. Das sind etwa doppelt so viele wie im Vorjahr. Die offizielle Begründung zur Statistik lautet: Bedingt durch die weltpolitische Lage habe man vermehrt komplexe Abklärungen durchgeführt.
Michelle sagt: «Die Möglichkeiten unserer Zielpersonen haben sich verändert. Das führt dazu, dass wir uns verändern müssen.» Dies wiederum wirke sich dann vielleicht auch in den Zahlen aus.
Ihre Kollegin, die Analystin Maude, ergänzt: «Vor einigen Jahren haben wir noch viel gesehen, vor allem auf Facebook.» Jetzt habe sich die Technologie weiterentwickelt, Foren seien häufiger geschlossen. «Um da hereinzugehen, fehlen uns die gesetzlichen Grundlagen.»
Am Tisch mit einem Gefährder
Die grösste Bedrohung heute in der Schweiz? Laut NDB ist das eine Einzelperson, die sich radikalisiert. «Sehr oft passiert dies alleine, hinter dem Bildschirm. Dieses Individuum könnte eine gewalttätige Attacke begehen, mit sehr einfachen logistischen Mitteln», so Maude.
Zwar hat der NDB zuletzt keine Reisen von Dschihadisten in Konfliktzonen wie Syrien oder Irak mehr registriert. Aber im Inland sei die Bedrohung trotzdem nach wie vor real.
Die Möglichkeiten unserer Zielpersonen haben sich verändert. Das führt dazu, dass auch wir uns verändern müssen.
Michelle lädt den möglichen Gefährder Mohammed zum Gespräch ein. Er kann frei entscheiden, ob er mit ihr sprechen will – anders, als bei einer Vorladung durch die Polizei. Denn noch liegt nichts Konkretes gegen ihn vor. Mohammed willigt ein.
Als er ihr schliesslich an einem schlichten Tisch gegenübersitzt, will Michelle mehr über seine Beweggründe erfahren. Sie betont, sie arbeite nicht nur in eine Richtung: Sie suche Informationen, die Verdächtige belasten oder entlasten.
Die NDB-Mitarbeiterin stellt ihrem Gegenüber Fragen zum Freundeskreis, zu seinem Verhalten in den sozialen Medien. «Haben Sie online etwas angeschaut oder geteilt, das problematisch sein könnte?» Mohammed druckst zuerst herum, verweist dann aber auf einen Bekannten, der ihn via Facebook aufgewiegelt habe. Er nennt ihn Ali.
Nach dem Gespräch entscheidet Michelle, gemeinsam mit ihrem Team, beim Bundesverwaltungsgericht die Bewilligung für eine Observation zu beantragen.
Über Geheimhaltung und Verantwortung
2020 gab es in der Schweiz zwei Messerattacken innerhalb von nur zwei Monaten, in Lugano und Morges. Sowohl die Täterin von Lugano als auch derjenige von Morges waren der Polizei bekannt.
Spüren Mitarbeitende des NDB Druck, weil sie Gefährder erkennen sollten? «Es ist sicher eine gewisse Verantwortung», sagt Michelle und fügt an: «Dem Druck kann man aber mit Erfahrung und Fachkenntnissen entgegenwirken.»
Michelle war früher Polizistin. Sie sagt, für sie sei anfangs vor allem die Geheimhaltung des Jobs beim NDB herausfordernd gewesen. Weshalb hat sie sich trotzdem entschieden, zum Nachrichtendienst zu wechseln? «Für mich ist das Gefühl von Sicherheit ein wertvoller Wert. Ich glaube, wir haben Glück, in einem Land zu leben, in dem diese Sicherheit gewährleistet wird. Dafür stehe ich ein. Und dafür engagiere ich mich auch.»
Meine engsten Familienmitglieder wissen, wo ich arbeite. Aber nicht, was ich mache.
Wird ihre Kollegin Maude von Bekannten gefragt, wo sie arbeitet, sagt sie nur «beim Bund». Die Details zu ihrem Job verrät sie erst recht niemandem. «Meine engsten Familienmitglieder wissen, wo ich arbeite – aber nicht, was ich mache. Wenn man im Scheinwerferlicht sein will, ist man hier am falschen Ort. Wir leben die Diskretion.»
In einem Berner Aussenquartier: Michelles Team hat die Bewilligung für die Observation erhalten. Sie folgen dem möglichen Gefährder Mohammed, fotografieren aus der Distanz, wie er in ein Auto steigt. Er trifft einen Bekannten, der aber im Auto nicht erkennbar ist.
Michelle vermutet, dass es dieselbe Person ist, die Mohammed Tage zuvor bereits im Gespräch erwähnt hatte. Sie entscheidet deshalb, die Observation fortzuführen, um allenfalls weitere Verdächtige aus seinem Umfeld zu entdecken.
Beweise für eine strafbare Handlung hat ihr Team bisher keine. Liegen solche vor, geht ein Fall direkt weiter an die Bundespolizei.
Wie lange eine Observation maximal dauert, wenn nichts Konkretes gegen eine Person vorliegt, gibt Michelle nicht preis – «aus einsatztaktischen Gründen».