«In der ganzen Argumentation und Diskussion über die Atomkraftwerke sagte man immer, dass es keine Lösung für den Atommüll gebe, jetzt hat man eine», so Vanessa Meury. Für sie fällt mit der Bekanntgabe des Standorts für das Endlager das wichtigste Argument gegen den Bau neuer AKW weg. Mit ihrer Initiative «Blackout stoppen» möchte die Präsidentin der Jungen SVP Solothurn den Bau neuer AKW in der Schweiz wieder ermöglichen. 2017 hatte das Schweizer Volk den Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen.
In der ganzen Argumentation und Diskussion über die Atomkraftwerke sagte man immer, dass es keine Lösung für den Atommüll gebe, jetzt hat man eine.
Die Lösung für den Atommüll ist noch nicht in Stein gemeisselt. Mit dem Bau des Endlagers wird frühstens 2045 begonnen. Doch das Timing für Meurys Unterschriftensammlung könnte angesichts des drohenden Strommangels kaum besser sein.
Schweiz ist auf ausländischen Strom angewiesen
«AKW sind nicht die Lösung, sie sind im Moment ein Teil des Problems», entgegnet der Grüne Regierungsrat und Zürcher Energiedirektor Martin Neukom. Die Reaktoren, die in Frankreich wegen Korrosionsschäden in Revision sind und keinen Strom liefern, hätten die europäische Energiekrise mitverursacht.
AKW sind nicht die Lösung, sie sind im Moment ein Teil des Problems
Langfristig auf Stromimporte zu vertrauen, sei der falsche Weg, sagt Lukas Schmidt. Der Nuklearingenieur befürchtet ab 2035 einen massiven Stromengpass: «Wenn 2012 der Neubau der Kernkraftwerke nicht sistiert worden wäre, hätten wir jetzt vielleicht genug Strom in der Schweiz.»
Alle grossen Industrienationen ausserhalb des deutschsprachigen Raums würden auf den Mix aus Kernenergie und Erneuerbaren setzen: «Ich sage nicht, dass wir sofort zehn Kernkraftwerke bauen müssen. Aber wir sollten uns die Optionen offenhalten», so Schmidt.
Wer baut in der Schweiz ein AKW
In der Schweiz wolle niemand ein neues AKW bauen, weil es nicht wirtschaftlich sei: «Mühleberg ging 2019 aus ökonomischen Gründen vom Netz.» Dem pflichtet auch Susan Boos bei. Die Journalistin schreibt seit 30 Jahren über die Atomindustrie. Für sie ist es wichtig, die Gefahren der Kernkraft nicht zu vergessen: «Es gibt viele AKW weltweit, die technisch nicht so gerüstet sind, wie sie sein sollten. Doch die Branche schweigt darüber.»
Es gibt viele AKW weltweit, die technisch nicht so gerüstet sind, wie sie sein sollten. Doch die Branche schweigt darüber.
Diese Bedenken würden die Schweiz jedoch nicht betreffen, meint Schmidt: «Die Schweiz hat eine hohe Sicherheitskultur und betreibt seit 40 Jahren erfolgreich Kernkraftwerke.»
Strahlende Zukunft für die Atomkraft?
«Wollen wir eine klimafreundliche Stromproduktion, muss man über Kernenergie sprechen», so Schmidt. Das sehe auch der Weltklimarat so: «In allen Szenarien, in denen es darum geht, die Klimaerwärmung auf 1,5 °C zu beschränken, spielt die Kernenergie eine tragende Rolle», ergänzt Schmidt.
Trotzdem sind für Martin Neukom die Erneuerbaren zu bevorzugen, auch wenn die Schweiz noch hinterherhinke: «Die Lösungen sind grundsätzlich vorhanden. Es gibt Szenarien, die zeigen, wie eine Energieversorgung mit 100 Prozent Erneuerbaren funktioniert.»
Wollen wir eine klimafreundliche Stromproduktion, muss man über Kernenergie sprechen
Über eines ist man sich im Club einig. Bevor eine neue AKW-Generation, die sogenannten Small-Modular-Reactors, Strom liefern, dürfte es noch Jahrzehnte dauern.
Angesichts der Energie- und Klimakrise könnte sich das Image der Kernenergie wandeln. Wie Schmidt aus eigener Erfahrung weiss: «Es gab Momente, in denen man sich von mir abwendete», so der Nuklearingenieur über seine Berufswahl, die er zum Zeitpunkt der Nuklearkatastrophe in Fukushima traf. «Heute sage ich immer, ich sorge 24 Stunden am Tag für CO2-freie Stromproduktion. Dann werden die Leute zunächst mal hellhörig. Wenn ich dann von Kernkraftwerken spreche, traut sich niemand mehr etwas zu sagen.»