Die Schweizer Regierung will den bilateralen Weg weiterführen und setzt neu auf einen sektoriellen Ansatz. Bundespräsident Ignazio Cassis über das Europadossier und das zögerliche Verhalten betreffend Sanktionen gegen Russland.
SRF News: Ein neuer Anlauf mit einem neuen Ansatz – Sie möchten statt eines grossen Rahmens die ungelösten Fragen in den einzelnen Abkommen mit der EU regeln. Und das, obwohl es schon mehrere Signale aus Brüssel gab, dass man genau das nicht möchte.
Ignazio Cassis: Was der Bundesrat entschieden hat, ist ein neuer Anlauf, um ein neues Kapitel zu starten. Er hat versucht, aus der Vergangenheit zu lernen.
Wir haben den Ansatz ausgeweitet.
Das Rahmenabkommen war ein zu grosser Schritt. Wir müssen jetzt einen passenden Schritt in die gleiche Richtung machen. Wir haben den Ansatz ausgeweitet, in dem wir nun mehrere konkrete Elemente im Korb haben. So ist auch die Verhandlungsmasse grösser. Und wir versuchen, die institutionellen Elemente so zu dosieren, dass sie auch für die Schweiz verdaulich sind.
Sie haben gesagt, die Verhandlungsmasse wird vergrössert, das sei ein Vorteil. Könnte es nicht auch ein Nachteil sein, der neuen Widerstand provoziert – auch im Inland?
Ja, das ist möglich. Aber auf der anderen Seite ist es viel verständlicher für Otto Normalbürger. Früher hat man von abstrakten Schiedsgerichtselementen, von dynamischer Rechtsübernahme gesprochen. Und es war niemandem klar, worum es eigentlich geht. Jetzt sprechen wir über Strom, über Lebensmittel, über Personenfreizügigkeit, über Forschung. Wir sprechen über Dinge, die uns alle jeden Tag interessieren.
Sie öffnen das Ganze, es klingt aber nach einem ziemlich langen Weg zum Ziel. Hat man diese Zeit, beispielsweise in der Forschung?
Seit Januar 2018 sind wir in der Situation, dass kein Binnenmarktabkommen mehr aktualisiert wird. Und trotzdem sind wir immer noch da. Ich glaube, es geht jetzt darum, die Qualität dieses Weges zu definieren. Timing ist sekundär.
Timing ist sekundär, aber die Branchen, die ächzen unter den Komplikationen...
Ja, aber sie haben auch keine Lösung für die grösseren Probleme.
Zum Krieg in der Ukraine. Der Bundesrat hat unmissverständlich und eindeutig das Vorgehen Russlands verurteilt. Aber er übernimmt nicht unmissverständlich und klar die Sanktionen gegen Russland.
Das ist normal für die Schweiz. Die Schweiz hat Sanktionen nie automatisch übernommen, sonst würde sie ihrer Neutralität nicht treu bleiben.
Die Schweiz hat die Sanktionen nie automatisch übernommen.
Durch die Neutralität der Schweiz gelingt es unserem Land, Diplomatie und gute Dienste anzubieten. Und somit einen viel grösseren Mehrwert zu schaffen.
Die Schweiz hat zum Beispiel im Syrienkonflikt die EU-Sanktionen vollumfänglich übernommen. Aber auch da wollte man eine Vermittlertätigkeit ergreifen. Warum ist das anders im Falle von Russland?
Es ist immer anders. Jeder Konflikt ist anders. Zuerst einmal bereits aufgrund der geografischen Lage. Zweitens durch die Rolle, welche die Schweiz haben kann, je nach Geschichte und Situation. Und drittens auch in Bezug auf die Interessenslagen der entsprechenden Regionen in der Schweiz.
Kritiker würden sagen, Russland ist einfach ein zu grosser Player.
Russland und Ukraine befinden sich auf unserem Kontinent. Es ist enorm wichtig, dass unser Land als neutrales und eigenständiges Land noch die Chance hat, einen Dialog anzubieten.
Aber gibt es diese Chance überhaupt, dass die Schweiz jetzt eine Vermittlerrolle spielt?
Es gibt Gespräche hierzu.
Das Gespräch führte Gion-Duri Vincenz.