Das Wichtigste in Kürze
- Insgesamt waren zehn Schweizer Psychiatrie-Kliniken in den 1950er bis 1970er Jahre in Medikamententests involviert.
- Betroffen waren über 4200 Patientinnen und Patienten.
- Die meisten Medikamente stellte die Basler Pharmaindustrie zur Verfügung.
Bisher war bekannt, dass in Basel, Zürich, Münsterlingen (TG), Herisau (AR) und St. Urban (LU) mit nicht zugelassenen Wirkstoffen experimentiert worden ist. Testberichte zeigen jetzt, dass die Ärzte auch in den psychiatrischen Universitätskliniken Bern, Genf und Lausanne sowie in den psychiatrischen Kliniken Münsingen (BE) und Wil (SG) Präparate an depressiven und schizophrenen Patienten testeten.
1966 wurde erstmals das Testpräparat «MF 10» an 130 Patienten systematisch in allen fünf psychiatrischen Universitätskliniken der Schweiz getestet. Das zeigen Recherchen von «Schweiz aktuell».
Laut dem Historiker Urs Germann von der Universität Bern war dies die erste Medikamenten-Studie, in die alle Uni-Kliniken involviert waren: «Für die Pharmaindustrie war es wichtig, dass sie die Testergebnisse von verschiedenen Kliniken erhalten und vergleichen können.»
Die meisten Medikamente stellte die Basler Pharmaindustrie zur Verfügung. Bis heute wissen weder Roche noch Novartis – die Nachfolgefirma von Geigy, Ciba und Sandoz – wie viele Medikamente sie in den 1950er bis 1970er Jahren in der Schweiz testen liessen.
Fatale Nebenwirkungen
Die Liste der Nebenwirkungen des Testpräparats «MF 10» umfasst 34 Symptome, von Kollaps bis zu Halluzinationen. Der Wirkstoff «Doxepin» stand den Ärzten in Tabletten und Ampullen zur Verfügung.
«Es gab bei anderen Tests auch Fälle von irreversiblen Nebenwirkungen. Und es sind auch Versuche bekannt, die abgebrochen werden mussten, weil das Medikament die Augen der Patienten schädigte», ergänzt Urs Germann.
Brida von Castelberg, Vizepräsidentin der Schweizerischen Stiftung SPO Patientenschutz, erklärt, dass es wohl im Ermessen des Arztes war, wann er so ein Experiment stoppt, denn «die Patienten hatten damals keine Rechte und konnten sich auch nicht wehren».
Es kam zu Todesfällen
Im Kanton Bern wurden in den 1950er- und 60er-Jahren mindestens vier noch nicht zugelassene Wirkstoffe an 201 Patienten getestet. Das war bisher nicht bekannt.
Berichte, die in Fachzeitschriften publiziert wurden, zeigen, dass die Medikationen in Münsingen bei mehreren Patienten zu heftigen Nebenwirkungen führten und abgebrochen werden mussten. Ein 79-jähriger Patient verstarb während einem klinischen Test 1958 nach einer Lungenentzündung: «Exitus an Herzversagen» notierte der Arzt.
Auch während den Medikamentenprüfungen in Münsterlingen starben Patienten. Die Todesursache ist nicht bekannt.
Nahmen die Ärzte den Tod von Patienten in Kauf? Historiker Urs Germann verneint: «Davon gehe ich nicht aus. Die Ärzte wussten, dass es Patientengruppen mit erhöhtem Risiko gab, doch billigten sie damit nicht, dass Patienten zu Tode kamen.»
Momentan werden in Münsterlingen und Zürich die Medikamententests untersucht. Es kann also sein, dass noch mehr Patienten betroffen waren.