Nach dem Terroranschlag im deutschen Solingen stellt sich auch in der Schweiz die Frage: Wie sicher ist unser Land? Jérôme Endrass, Extremismus-Forscher an der Universität Konstanz und stellvertretender Leiter des Justizvollzugs des Kantons Zürich, hält die Schweiz für weniger gefährlich als die umliegenden Länder. Warum? Im Tagesgespräch beurteilt er die aktuelle Situation.
SRF News: Können wir uns nach dem Anschlag in Deutschland in der Schweiz sicher fühlen?
Jérôme Endrass: Ich verstehe, dass man nach einem solchen Anschlag wie in Solingen erschrickt und innehält. Aber insgesamt, wenn wir die Zahlen anschauen, zum Beispiel die Kriminalstatistik, kann ich klar sagen: Die Schweiz ist ein sicheres Land.
Der Direktor des Schweizer Nachrichtendienstes NDB hat vor ein paar Tagen in den Tamedia Zeitungen gesagt, die Schweiz habe im Vergleich zu anderen europäischen Ländern überdurchschnittlich viele radikalisierte Jugendliche, und er warnt vor der Gefahr, die von diesen Jugendlichen ausgeht. Sie sagen genau das Gegenteil.
Diese Tendenz stellen wir nicht fest. Aufgrund der uns vorliegenden Zahlen sehen wir nicht, dass die Schweiz stärker von radikalisierten Jugendlichen betroffen ist als unsere Nachbarländer. Auch aus einer forensischen Perspektive sehe ich nicht, dass die Schweiz gegenüber Deutschland, Italien oder Frankreich besonders exponiert wäre.
Es mag für Aussenstehende absurd klingen, aber es ist nicht so einfach, gewalttätig zu werden.
Wir haben allerdings nicht den gleichen Blickwinkel wie der Nachrichtendienst. Der Nachrichtendienst ist viel früher sensibilisiert und nimmt vielleicht im Moment eine Vielzahl von Personen wahr, die sich extremistisch betätigen. Es ist aber wichtig zu beachten, dass Extremismus nicht gleich ein schweres Verbrechen ist.
Nur weil sich jemand extremistisch äussert, muss er nicht gewalttätig werden. Wir stellen sogar fest, dass in der Schweiz nur sehr wenige diese Handlungsschwelle überschreiten und Gewalt ausüben.
Warum wird diese Schwelle Ihrer Meinung nach in der Schweiz weniger überschritten als in unseren Nachbarländern?
Es mag für Aussenstehende absurd klingen, aber es ist nicht so einfach, gewalttätig zu werden. Das merkt man, wenn man mit Tätern spricht. Die müssen sich ein Stück weit überwinden. Zum Teil müssen sie etwas in sich überwinden, zum Teil müssen sie soziale Konventionen überwinden.
Soziale Brennpunkte kennen wir auch, aber nie in der Grösse und im Ausmass wie in Deutschland.
Gerade in einem Land wie der Schweiz, wo die soziale Kontrolle sehr stark ist, ist es besonders schwierig, gewalttätig zu werden. Aus dem sozialen Raster zu fallen, ist bei uns schwieriger. Das spielt vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine wichtige Rolle.
Welche Vorteile hat denn die Schweiz gegenüber anderen Ländern für eine Prävention?
Bei uns kennen wir das duale Ausbildungssystem. Die Jugendlichen haben während ihrer Ausbildung einen Lehrmeister oder eine Lehrmeisterin wie auch andere Erwachsene, die beruhigend auf sie einwirken können. Ein weiterer wichtiger Unterschied zu unseren Nachbarländern ist, dass wir keine Problemviertel haben. Soziale Brennpunkte kennen wir auch, aber nie in der Grösse und im Ausmass wie in Deutschland. Extremistische Gewalt ist ein Problem, das stark von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausgeht. Und wir sehen, dass die Jungen gerade in diesem vulnerablen Moment in der Schweiz mehr Rückhalt und soziale Kontrolle haben als in anderen Ländern.
Aus dem Tagesgespräch mit David Karasek, Mitarbeit Géraldine Jäggi.