Kurz vor Weihnachten letzten Jahres bricht der elfjährige Jonas zusammen. Er ist magersüchtig, sein Körper völlig ausgehungert. Seine Mutter Stella S. bringt ihn in den Kindernotfall am Inselspital Bern. Es ist bereits sein dritter Zusammenbruch.
Die Ärzte wägen ihn, nehmen Blut ab und messen seinen Puls. Sie schicken ihn wieder nach Hause. Man könne Jonas nicht behalten, heisst es. Er sei – noch nicht – akut in Lebensgefahr.
Seine Mutter muss monatelang zuschauen, wie ihr Sohn immer leichter wird. Jonas hat Probleme in der Schule und hört auf zu essen. Die Mutter ruft sämtliche Kinderpsychiater in der Region an, die auf Essstörungen spezialisiert sind. Sie setzen Jonas auf die Warteliste. Er hungert weiter.
Schliesslich reicht seine Energie nicht mehr für die Schule. Es kommt nur noch ein stationärer Aufenthalt infrage. Doch auch auf der Kinderstation heisst es: Warteliste.
Wir sind nicht ins Spital hineingekommen und auch sonst nirgendwo hin.
Stella S. verzweifelt: «Alle haben uns gesagt, schaut, dass er ins Spital kommt, der muss ernährt werden. Und gleichzeitig sind wir nicht ins Spital hineingekommen und auch sonst nirgendwo hin.»
Das Inselspital Bern teilte der «Rundschau» mit, dass Jonas mit allen verfügbaren Ressourcen betreut wurde. Allerdings könne die diagnostizierte Anorexie, die Magersucht, nicht in einem Kindernotfallzentrum behandelt werden. Der Patient sei entsprechend an die zuständigen psychiatrischen Dienste weiterverwiesen worden.
Wir hatten Angst, dass er zu Hause verhungert.
Als sie ihren Sohn aus dem Notfall nach Hause nehmen muss, weiss Stella S. nicht, wann Jonas einen Therapieplatz bekommt. «Wir hatten Angst, dass er zu Hause verhungert», erinnert sie sich.
Seit Beginn der Pandemie leiden mehr Kinder und Jugendliche unter Essstörungen. Eine schweizweite Umfrage der «Rundschau» zeigt: Spezialisierte Praxen und Therapeutinnen sind rar – und derart ausgebucht, dass die Betroffenen teils monatelang auf einen Termin warten müssen.
Kantonale Unterschiede bei stationärer Therapie
Ein Teufelskreis: Magersüchtige brauchen schnell Hilfe, sonst benötigen sie schliesslich eine stationäre Therapie. Doch auch dafür müssen sie in den meisten Kantonen über einen Monat warten, in manchen mehr als drei Monate. Konkret: 19 von 26 Kantonen bezeichnen das Therapieangebot in ihrer Region als zu gering bis extrem schlecht.
Einige Tage nach seinem Zusammenbruch bekommt Jonas doch einen Platz auf einer Therapiestation. Wegen seines grossen Heimwehs nahm er jedoch kaum zu. Seine Eltern pflegen ihn seither zu Hause – mittels der «familienbasierten Therapie», auch Maudsley-Methode genannt. Sie lassen sich dabei von Ärzten und einem Eltern-Netzwerk unterstützen.
Jonas geht es mittlerweile besser. Doch vom Gesundheitssystem ist Stella S. enttäuscht: «Ich finde es einfach nur tragisch, dass in einem der reichsten Länder der Welt bei einem Kind in so einem Zustand so lange zugewartet wird.»