«Die Situation in Chiasso ist explosiv», «Chiasso ist am Limit», «Chiasso ächzt unter den hohen Flüchtlingszahlen»: Die Grenzstadt Chiasso sorgte mit ihrer Flüchtlingssituation in den letzten Tagen für starke Schlagzeilen.
Eine ältere Dame spaziert in der Stadt mit ihrem Hündchen: «Für mich ist alles in Ordnung. Migranten hat es hier immer gegeben.» Auch sie sei vor vielen Jahren aus Sizilien hierhergekommen. «Ich sehe das Glas halbvoll.»
Polizei: «Situation ist angespannt»
Für die Betreiberin des Traditionsrestaurants «La Indipendenza», Maria José Soler, ist das Glas leer: «Wir rufen täglich die Polizei. Neulich hat ein Flüchtling einen anderen niedergehauen, woraufhin wir die Ambulanz alarmierten. Der Schläger kam Abends vorbei und erkundigte sich nach dem Gesundheitszustand; und wollte an unsere Kasse.»
In diesem Jahr seien seine Kolleginnen und Kollegen bereits 300 Mal wegen der Asylsuchenden ausgerückt, sagt Polizeikommandant Nicolas Poncini: «Die Situation ist angespannt, wir haben doppelt so viele Flüchtlinge wie vorgesehen.» Das bedeute automatisch mehr Menschen, die Schwierigkeiten machen.
Es sind viele kleine Zwischenfälle wie Ladendiebstähle, Betrunkene, die randalieren, oder Streitigkeiten zwischen den Asylsuchenden, welche die Lebensqualität der hiesigen Bevölkerung einschränken.
Diverse Politiker aus dem Mitte-rechts-Lager fordern darum laustark in Bern Hilfe. Nur: Die Situation ist bei weitem nicht so unvorhergesehen, wie sie dargestellt wird. «Nun haben wir eine ausserordentliche Lage, nicht nur im Tessin. Daher haben wir, natürlich in Absprache mit den Behörden, neue Unterkünfte in Beschlag nehmen müssen», erklärt Samuel Wyss, Sprecher des Staatssekretariats für Migration SEM.
Das SEM unterstützt die Polizei mit zusätzlichen Aussenpatrouillen. Eigentlich ist die Polizei – und damit der Kanton – zuständig für die Sicherheit ausserhalb des Asylzentrums.
Unzufriedener Stadtpräsident
Auf einem Spielfeld im Zentrum von Chiasso halten sich rund 20, meist männliche Asylsuchende auf. Der angrenzende Spielplatz ist fast leer. Vor Ort ist auch Stadtpräsident Bruno Arrigoni. «Jetzt von einer angespannten Lage zu sprechen, ist übertrieben. Es sind viele kleine Zwischenfälle wie Ladendiebstähle, Betrunkene, die randalieren, oder Streitigkeiten zwischen den Asylsuchenden, welche die Lebensqualität der hiesigen Bevölkerung einschränken.»
Arrigoni wünscht sich, dass die Zahl der Asylsuchenden in Chiasso abnimmt. Und dass die Polizei auch kleinere Verstösse bestrafen kann.
Ein Asylsuchender stellt sich neben den Stadtpräsidenten und sagt: «Wir haben nicht so viele Möglichkeiten. Nur essen, schlafen, essen, schlafen. Ich wünsche mir einen Ort zum Sport machen. Wenn du arbeiten willst, musst du betteln.»
Gewaltige Herausforderungen
Die Behörden vor Ort schafften es nicht, so viele Asylsuchende in Arbeitsprogramme einzubinden, bedauert Bruno Arrigoni. Er wünscht sich dafür auch vom Kanton mehr Unterstützung. Könnten die Asylsuchenden arbeiten, hätten sie eine Tagesstruktur und mehr Geld. Das wäre für alle besser.
Die Situation in Chiasso zeigt, wo der Schuh drückt. Zwischen fünf bis zehn Prozent der Migranten sorgen für Probleme. Die Behörden ihrerseits können den Migranten kaum Arbeitsmöglichkeiten geben.
Im Herbst rechnet das Staatssekretariat für Migration mit rund 30'000 neuen Migrantinnen und Migranten. Damit steigt automatisch die Zahl der renitenten Personen. Sich um sie zu kümmern und den anderen eine Tagesstruktur zu geben, sind gewaltige Herausforderungen. Werden sie nicht angegangen, könnte die Situation wirklich explosiv werden.