Darum geht es: Seit einem halben Jahr zahlen neue Grenzgängerinnen und Grenzgänger in Italien deutlich mehr Steuern, wenn sie in der Schweiz arbeiten. Das macht es für die italienischen Gastarbeiter finanziell weniger attraktiv, in der Schweiz zu arbeiten. Nun bangt die Tessiner Wirtschaft, die stark von den sogenannten «Frontalieri» abhängt, um die dringend benötigten Arbeitskräfte aus Italien.
Folgen spürbar: Erste Stimmen aus der Industrie und der Gastronomie sagen bereits, dass sich auf gewisse Stellen weniger Bewerber meldeten. «Wir haben einen gewissen Rückgang gespürt bei den Bewerbungen», sagt Massimo Suter, Präsident von Gastro Ticino. Die Tessiner Wirtschaft ist stark von Grenzgängerinnen und Grenzgängern aus der Lombardei abhängig. Rund 80'000 Angestellte pendeln täglich zur Arbeit über die Grenze. Fast jede dritte im Tessin erwerbstätige Person kommt aus Italien. Der Grund: Die Löhne sind meist doppelt so hoch wie in Italien.
Das könnte sich mit dem neuen Steuerabkommen ändern, befürchtet Piero Poli, Inhaber eines Generikaunternehmens in Manno. «Es ist gut möglich, dass die Leute nun eher abwägen, ob sie in der Schweiz arbeiten wollen. Sie zahlen mehr Steuern in Italien, es bleibt ihnen also weniger Lohn, trotzdem fahren sie täglich zweieinhalb Stunden Auto.» Wegen der vielen Grenzgänger kommt es täglich zu Staus auf den Strassenverbindungen von Italien ins Tessin. Ganz zum Ärger der lokalen Bevölkerung.
Politik gegen Tiefstlöhne: Das neue Steuerabkommen mit Italien sei nicht im Interesse der Arbeitgeber, aber politisch gewollt, sagt Luca Albertoni, Direktor der Handelskammer Tessin: «Die Politik wollte, dass die Grenzgänger bestraft werden, im Sinne, dass diese weniger verdienen, dass die Schweiz weniger attraktiv wird. So sollen die Lohnunterschiede zwischen Einheimischen und Grenzgängern kleiner werden, was wahrscheinlich die Folge sein wird.»
Denn zahlen die Grenzgängerinnen mehr Steuern, bleibt weniger Geld im Portemonnaie. Sie könnten möglicherweise nicht mehr bereit sein, zu Tessiner Mindestlöhnen zu arbeiten. Diese liegen derzeit bei 19.75 Franken. Insbesondere die Industrie, die international im Wettbewerb stehe, habe wenig Spielraum, die Löhne zu erhöhen, sagt Luca Albertoni: «Gut möglich, dass das Tessin weniger attraktiv wird für gewisse Unternehmen.» Er glaubt aber, dass die Folgen des neuen Steuerabkommens erst in einigen Jahren sichtbar werden.
Das spricht für Gastarbeitende: Pharmaunternehmer Piero Poli, der den Verband der Tessiner Pharmaindustrie präsidiert, gibt sich gelassen. Solange der Franken gegenüber dem Euro stark sei, liege der Vorteil bei den Grenzgängern. Bei der Anstellung spielten neben dem Lohn auch Entwicklungsmöglichkeiten und weitere Lohnbestandteile eine Rolle. Über Anpassungen beim Lohn will er noch nicht reden. Gastro-Ticino-Präsident Massimo Suter glaubt, dass die Schweizer Löhne für jene Grenzgänger, die nahe an der Schweizer Grenze wohnten, weiterhin attraktiv blieben: «Diese Angst, weniger zu verdienen, wird sich abschwächen.»