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«Wozu dient die Romandie?»
Aus Echo der Zeit vom 01.11.2024. Bild: Keystone/Laurent Merlet
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Forum in Lausanne Was versteht die Deutschschweiz nicht an der Romandie?

100 prägende Köpfe aus der Romandie wählt die Zeitung «Le Temps» jedes Jahr. Fünf Personen sprechen über Unterschiede zur Deutschschweiz.

Sie singen, sie schreiben, sie führen Unternehmen, sie forschen oder machen Politik: Die hundert Köpfe, zu deren Ehren «Le Temps» in Lausanne das «Forum des 100» organisiert, kommen aus allen Ecken der Gesellschaft. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Westschweiz in den letzten zwölf Monaten geprägt haben. Fünf spannende Köpfe erzählen über ihre Beziehung zur Deutschschweiz.

Béatrice Pilloud, die erste Walliser Generalstaatsanwältin

Frau mit Brille spricht in einem Meeting.
Legende: KEYSTONE/Cyril Zingaro

Der Schalk sitzt Béatrice Pilloud fast immer in den Augen. Das passt zu ihrem grossen Anliegen, den menschlichen Aspekt ins Zentrum des Strafrechts zu rücken.

Pilloud sitzt seit einem Jahr an der Spitze der Walliser Staatsanwaltschaft, als erste Frau überhaupt. Die Strafrechtlerin ist Vorgesetzte von 34 Staatsanwältinnen und -anwälten – deutschsprachigen Oberwalliser und französischsprachigen Unterwalliserinnen, Romands und Deutschschweizerinnen. Der Röstigraben verläuft mitten durch ihr Amt.

Der Mangel an Nonchalance und eine gewisse Deutschschweizer Sturheit können mich manchmal zur Verzweiflung bringen.
Autor: Béatrice Pilloud Walliser Generalstaatsanwältin

«Die deutschsprachigen Oberwalliser arbeiten selbständig, sehr pragmatisch – aber auch jeder für sich. Die französischsprachigen Unterwalliser sind teamorientierter und wohl auch etwas nonchalanter», sagt Pilloud, die selbst zweisprachig ist, sich im Französischen aber mehr zu Hause fühlt. «Der Mangel an Nonchalance und eine gewisse Deutschschweizer Sturheit können mich manchmal zur Verzweiflung bringen.»

François Girod, Direktor des Holcim-Zementwerks in Eclépens

Mann mit Brille und Namensschild bei Veranstaltung in modernem Gebäude.
Legende: SRF / Roman Fillinger

Das Holcim-Zementwerk in Eclépens, zwanzig Kilometer nördlich von Lausanne, ist einer der grossen Treibhausgasemittenten in der Schweiz und dementsprechend umstritten. Das bekommt François Girod, Direktor dieses Zementwerks, immer wieder zu spüren; zum Beispiel, wenn Umweltaktivisten den Steinbruch besetzen.

Die Romandie bringt der Schweiz Pfeffer und Exotik.
Autor: François Girod Direktor des Holcim-Zementwerks in Eclépens VD

Typisch für Girod ist eine kleine Begegnung am «Forum des 100»: Eine Umweltaktivistin und er begrüssen sich so herzlich, dass man meinen könnte, die beiden seien Freunde. «Wir sind anderer Meinung. Aber wir respektieren uns», kommentiert der Holcim-Direktor und ergänzt: «Die Romandie bringt der Schweiz Pfeffer und Exotik.» Die Romands seien debattierfreudiger und wohl auch geselliger als die Deutschschweizerinnen, findet er.

Mit allen den Dialog zu suchen, sei in der Romandie noch wichtiger als in der Deutschschweiz, ist Girod überzeugt. «Das muss ich in der Zentrale in Zürich immer wieder erklären.» Er selbst kennt dank seiner Mutter aus dem Aargau beide Kulturen. 

Die typischen Schweizer Grossunternehmen seien nach wie vor stark von der Deutschschweiz geprägt, sagt Girod. Zwar sei heute vielerorts – auch bei Holcim – Englisch die Standardsprache. Und doch: «Strategische Diskussionen werden oft auf Schweizerdeutsch geführt. Das ist für Französischsprachige nicht einfach. Als praktisch zweisprachiger Romand habe ich da einen Joker in der Hand.»

Dragqueen und Komikerin Frani Elle

Person in beigem Outfit lächelt in moderner Lobby.
Legende: SRF / Roman Fillinger

Das Spiel mit Klischees gehört zum Programm bei der Walliserin Frani Elle. Die hochgewachsene Komikerin mit den wasserstoffblonden Haaren, dem knalligen Lippenstift und den stark geschminkten Augen heisst mit bürgerlichem Namen Franceso Mercanton. Sie hat sich als Dragqueen Frani Elle einen Namen gemacht. Tausende folgen der Walliserin in den Sozialen Medien. Beim Westschweizer Fernsehen RTS moderiert sie die Sendung «Hot Dogs».

Vielleicht beklagen wir uns so gerne, weil wir so von Frankreich geprägt sind.
Autor: Frani Elle Dragqueen und Komikerin

Mit Klischees spielt Frani Elle auch bei ihrer Antwort auf die Frage, was die Romandie zur Schweiz beitrage: «Sonne, Leichtigkeit und gute Laune. Wir trinken Apéro, während ihr in der Deutschschweiz arbeitet.» Etwas ernsthafter setzt sie hinzu, die Romandie habe eine grosse Kultur des Sich-Beklagens. «Vielleicht beklagen wir uns so gerne, weil wir so von Frankreich geprägt sind. Das ist vielleicht die grosse Differenz zwischen euch und uns.»

Und es gibt etwas, das die Komikerin immer wieder erstaunt an ihrem Deutschschweizer Publikum: «Je mehr ich die Deutschschweizer beleidige, desto mehr lieben sie mich.»

Start-up-Mitgründerin Lara Gervaise

Frau mit lockigem Haar im grünen Blazer lächelt in modernem Innenraum.
Legende: SRF / Roman Fillinger

Lara Gervaise ist eine Vorzeige-Absolventin der EPFL, der ETH-Schwester in Lausanne. Die 25-Jährige hat das Start-up Virtuosis AI mitgegründet. Dort untersucht sie mit künstlicher Intelligenz Stimmen, um schon früh erste Anzeichen für Burn-outs oder andere psychische Leiden zu finden. Virtuosis AI arbeitet mit dem Branchenriesen Microsoft zusammen und bald wohl auch mit Spitälern in der Deutschschweiz.

Ich glaube, die Romandie wird manchmal unterschätzt.
Autor: Lara Gervaise Mitgründerin des Start-ups Virtuosis AI

Über Verhandlungen mit den Deutschschweizerinnen und -schweizern sagt Gervaise: «Die Deutschschweizer kommen schneller zum Punkt als wir Romands.» Die Ingenieurin mag das. Gleichzeitig findet sie, in der Westschweiz werde oft weitergedacht, würden Projekte rascher in einen grösseren Kontext gesetzt. «Beide Seiten können voneinander lernen», findet sie.

Insgesamt glaubt Gervaise, die Romandie werde in der Deutschschweiz manchmal etwas unterschätzt. Dafür habe die Westschweiz international viel Ausstrahlung.

Gewerkschafterin Letizia Pizzolato

Frau mit dunklem Haar bei einer Veranstaltung mit Menschen im Hintergrund.
Legende: SRF / Roman Fillinger

Letizia Pizzolato kämpft als Gewerkschafterin für faire Arbeitsbedingungen im öffentlichen Sektor oder für bessere Bedingungen für die rund 450 unbegleiteten minderjährigen Asylbewerberinnen und -bewerber im Kanton Waadt. Mit Erfolg: Diesen Sommer hat der Kanton Waadt mehr Mittel für die Betreuung dieser Jugendlichen bewilligt.

Anders als in der Deutschschweiz sind Streik, Konflikt, Konfrontation in der Westschweiz keine Unwörter, sondern ganz normale politische Instrumente.
Autor: Letizia Pizzolato Gewerkschafterin

Pizzolato arbeitet in ihrer Gewerkschaft intensiv mit Kolleginnen und Kollegen aus der Deutschschweiz zusammen. Sie erlebt die Unterschiede zwischen Romandie und Deutschschweiz vor allem in den Mitteln der politischen Auseinandersetzung. «Anders als in der Deutschschweiz sind Streik, Konflikt, Konfrontation in der Westschweiz keine Unwörter, sondern ganz normale politische Instrumente. Wir sind hier wohl etwas konfrontativer.» Das sei wohl eine Folge der Nähe zu Frankreich.

Generell habe man auf beiden Seiten des Röstigrabens wohl einen vereinfachenden Blick aufeinander: «Wir nehmen uns als Blöcke wahr, wir die Deutschschweiz, ihr die Romandie. Dabei sind wir überzeugt, dass es zwischen Wallisern und Genferinnen, zwischen Waadtländerinnen und Fribourgern grosse Unterschiede gibt.»

Diese Unterschiede seien mindestens ebenso gross wie die zwischen Romandie und Deutschschweiz.

Echo der Zeit, 1.11.2024, 18:00 Uhr;stal

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