Am 6. Dezember 1992 stimmt die Schweiz über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ab. In der Europafrage sagt die Deutschschweiz Nein. «Auf Italienisch no, auf Französisch oui, un oui clair», heisst es damals in den Schlagzeilen des «Echo der Zeit». Die Westschweiz hat geschlossen dafür gestimmt, unterstützt wurde sie einzig von den beiden Basel.
Die Genfer SP-Nationalrätin Christiane Brunner fand das eine «Katastrophe» für das Zusammenleben von Deutsch und Welsch, wie sie ins Radiomikrofon sagte. Die EWR-Abstimmung hat die Schweiz geprägt, nicht nur wegen ihrer Bedeutung für die Europafrage, sondern auch wegen des Verhältnisses zwischen der Romandie und der Deutschschweiz.
Was bedeutet der Röstigraben für die Schweiz?
Beim EWR stand eine geschlossene Romandie einer uneinheitlichen Deutschschweiz gegenüber und verlor. Das gab es 27 Mal seit 1848, wie Sean Müller, Politologe an der Universität Lausanne, errechnete. Das sind vier Prozent aller fast 663 Abstimmungen, die für die Analyse ausgewertet wurden.
Und nur fünf Mal standen sich eine geschlossene Romandie und eine geschlossene Deutschschweiz gegenüber. In dieser Konstellation unterlag die Westschweiz jedes Mal.
«Das ist oft genug, dass man nicht vergisst, auf die Minderheit Rücksicht zu nehmen. Aber doch selten genug, als dass es wirklich zu einem grossen Problem werden könnte», sagt Sean Müller. Für ihn ist der Röstigraben wie ein Hintergrundrauschen, das mal lauter und mal leiser wird, aber konstant da ist.
Weniger Stadt-Land-Graben in der Romandie
Heute werden auch andere Gräben stark diskutiert. Der Geschlechtergraben bei der Abstimmung über die Erhöhung des Frauenrentenalters bei der AHV. Oder der Stadt-Land-Graben bei der Ablehnung des CO2-Gesetzes 2021. Gerade aber im letzteren versteckt sich auch ein Röstigraben.
Das unterschiedliche Abstimmungsverhalten in der Deutschschweiz zwischen einer Grossstadt und einer Landgemeinde beträgt etwa 20 Prozent. «In der französischsprachigen Schweiz hat der Stadt-Land-Graben zwar auch ein bisschen zugenommen, aber nicht so stark und auf viel tieferem Niveau», sagt Sean Müller. Die Stimmdifferenz beläuft sich auf zwischen sieben und acht Prozent.
Das hat damit zu tun, dass die in der Westschweiz stark vertretene FDP näher der Mitte ist als jene in der Deutschschweiz. Zudem ist die SVP in der Westschweiz weniger stark.
Der Stadt-Land-Graben hat also das Potenzial, die Romandie zu stärken. Denn die Westschweiz ist zusammen mit den Deutschschweizer Städten in der Mehrheit. Das kann aber auch zur Folge haben, dass das Deutschschweizer Land erst recht mobilisiert wird. Und es schafft, seine Interessen gegen die Romandie und die Städte durchzusetzen.
Trennen die vielen Lager die Schweiz?
Riskiert die Schweiz eine Spaltung angesichts der vielen Gräben wie dem Röstigraben, dem Stadt-Land-Graben oder dem Geschlechtergraben? Nein, sagt der Politologe. Denn in der Tat sei es so, dass sich diese vielen Gräben gegenseitig überkreuzten und abschwächten. Das macht die Stabilität des Schweizer Politiksystems aus.
Und trennt der Röstigraben die Schweiz eher, oder hält er das Land zusammen? «Summa summarum schweisst der Röstigraben die Schweiz schon eher zusammen», hält Sean Müller fest. Weil die politischen Instrumente darauf ausgerichtet seien, einen Kompromiss auszuhandeln. Und damit bleibt die Schweiz meilenweit entfernt von Verhältnissen wie etwa in Belgien, wo die Sprachenfrage eine Kampfzone ist.