Erstmals seit Einführung der Personenfreizügigkeit 2002 ist im Kanton Tessin die Zahl der Grenzgänger Ende 2024 um 1.1 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen. Zwar nur gering, aber nach jahrzehntelanger Zunahme doch bemerkenswert. Die Besteuerung der «Frontalieri» in Italien und die niedrige Arbeitslosigkeit in der Lombardei zeigen Wirkung.
Fast jede dritte erwerbstätige Person im Tessin pendelt täglich aus dem Ausland. Ende 2024 zählte das Bundesamt für Statistik 78'683 Grenzgänger und Grenzgängerinnen. Während landesweit deren Zahl steigt, sinkt sie einzig im Tessin und in der Ostschweiz.
Das rückläufige Interesse der Arbeitskräfte aus Italien hat mehrere Gründe, sagt Luca Albertoni, Direktor der Handelskammer Tessin: «Das neue Steuerabkommen mit Italien macht das Tessin weniger attraktiv und die bessere Wirtschaftslage in Italien spielt auch eine Rolle.»
Das neue Steuerabkommen mit Italien macht das Tessin weniger attraktiv und die bessere Wirtschaftslage in Italien spielt auch eine Rolle.
So weist die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) für die Lombardei mit 3.6 Prozent eine deutlich niedrigere Erwerbslosenquote aus als für das Tessin mit 7.3 Prozent. Albertoni sagt, dass gewisse Unternehmen mehr Mühe hätten, qualifiziertes Personal wie Geschäftsführer, Ingenieure oder Vertriebsleiter zu finden.
Steuervorteil fällt weg
Seit dem 17. Juli 2023 müssen Grenzgänger und Grenzgängerinnen, die im Tessin arbeiten, in Italien Steuern zahlen. Je nach Einkommen liegen diese 10 bis 30 Prozent höher als bei Grenzgängern, die nach der alten Regelung in der Schweiz Quellensteuer zahlen, sagt Andrea Puglia von der Gewerkschaft OCST.
Die OCST vertritt etwa 18'000 «Frontalieri». Weil die Tessiner Wirtschaft eher qualifizierte und auch besserverdienende Arbeitskräfte suche, könnte sich dies in der Grenzgänger-Statistik widerspiegeln, sagt der Direktor der Handelskammer, Albertoni.
Gutverdienende wägen ab
Vor allem Gutverdienende, also hochqualifizierte Personen, überlegten sich nun, ob es sich für sie weiterhin lohne, im Tessin zu arbeiten, sagt Mauro Pellicciari, der bei der Gewerkschaft Interessierte berät.
Hochqualifizierte profitierten in Italien von vielen Zusatzleistungen: «Wenn ich in Italien einen Bruttolohn von 6000 Euro oder mehr erhalte und in der Schweiz 8000 Franken brutto verdiene, dann überlege ich mir: In Italien habe ich 14 Monatslöhne, in der Schweiz 12. In Italien habe ich eine Pensionskasse und erhalte vielleicht Zuschüsse an die Krankenkassenversicherung, das Mittagessen wird bezahlt, dazu Beiträge für Ausbildung und Kinderbetreuung und ich kann vielleicht im Homeoffice arbeiten.» Diese Elemente würden die Lohndifferenz ausgleichen, sagt Pellicciari.
Trendumkehr infrage gestellt
Weder Arbeitnehmer- noch Arbeitgebervertreter glauben, dass man bereits von einer Trendumkehr sprechen könne. Nach wie vor sei der Lohnunterschied im Gesundheitswesen, auf dem Bau oder im Detailhandel sowie in der Gastronomie zwischen der Lombardei und dem Tessin sehr gross. In diesen Branchen ist der Lohn im Tessin oft doppelt so hoch wie in Italien.
Insbesondere jüngere Menschen ohne Familie nehmen deshalb den längeren Arbeitsweg und Stau wegen des besseren Verdienstes auf sich. Ein weiterer Vorteil ist der Franken-Euro-Wechselkurs. Der Franken ist in den vergangenen Jahren gegenüber dem Euro deutlich stärker geworden, was für die Grenzgänger bedeutet, dass sie mit jedem im Tessin verdienten Franken mehr Euro für das Leben in Italien erhalten.