Zum Inhalt springen

Gefängnis statt Psychiatrie Warum die Messerstecherin von Lugano noch immer in U-Haft sitzt

Immer wieder erhalten Verurteilte nicht die vom Gericht angeordnete Unterbringung. Denn es gibt zu wenige Plätze in geschlossenen Psychiatrien.

In einem Einkaufsgeschäft in Lugano stach 2020 eine psychisch kranke, 28-jährige Frau mit einem Brotmesser auf zwei Passantinnen ein und rief «Allahu akbar». Das Bundesstrafgericht verurteilte sie 2022 zu einer stationären Massnahme in einer geschlossenen Klinik. Doch noch immer sitzt sie in Untersuchungshaft. In der Schweizer Hochsicherheitspsychiatrie herrscht Platznot.

Die Leiterin des Tessiner Justizamtes, Frida Andreotti, bedauert, dass die Täterin immer noch in U-Haft sitzt: «Die Versorgung ist nicht so ideal, wie sie das in einer auf solche Fälle spezialisierten Klinik wie Curabilis in Genf sein könnte.» Andreotti betont gleichzeitig, dass der Kanton Tessin bei weitem nicht der einzige Kanton sei, wo Verurteilte nicht die vom Gericht angeordnete Unterbringung erhalten. Die Täterin von Lugano wird vom Gesundheitsdienst des Gefängnisses versorgt.

Schweizweiter Mangel an Plätzen

Die Tessiner Messerstecherin ist kein Einzelfall. Im Jahr 2022 sassen in der Deutschschweiz 18 Personen, die eigentlich zu einer stationären Massnahme verurteilt waren, im Gefängnis. Das ist kein geeigneter Aufenthaltsort für eine Person, die zu einer Therapie verurteilt worden ist – darin sind sich Fachleute einig.

Blick auf Stacheldraht und Gebäude des Curabilis-Gefängnisses in Puplinge bei Genf.
Legende: In den nächsten Jahren soll das Angebot an Plätzen in spezialisierten Kliniken wie Curabilis in Genf (im Bild) ausgebaut werden. KEYSTONE/Salvatore Di Nolfi

Das Problem ist aber: Es gibt zu wenige Plätze in geschlossenen Kliniken. Aktuell gibt es in der Deutschschweiz 526 Plätze – bei einem Bedarf von 600 Plätzen. Allein in der Deutschschweiz fehlen also 74 Plätze. Vor allem bei hochgesicherten forensisch-psychiatrischen Klinikplätzen – wie die Tessiner Attentäterin einen braucht – bestehen zurzeit lange Wartezeiten.

Kantone ohne Kliniken sind Bittsteller

Besonders schwierig ist die Situation in Kantonen, die keine forensisch-psychiatrischen Kliniken haben – wie der Kanton Tessin. «Personen aus diesen Kantonen gehen in Kliniken anderer Kantone», sagt Simone Hänggi, Chefärztin der Psychiatrie Baselland und Vize-Präsidentin der Konferenz Schweizerischer Gefängnisärztinnen und -ärzte.

Einen Anspruch gibt es aber nicht. «Diese Kantone sind entsprechend Bittsteller und müssen halt warten, bis es einen Platz gibt», betont Hänggi. So wie im Fall der Tessiner Messerstecherin, die auf einen freien Platz in der Genfer Institution Curabilis wartet.

Laut dem Schweizerischen Kompetenzzentrum für den Justizvollzug soll das Angebot in den nächsten Jahren auf rund 650 Plätze ausgebaut werden und somit den Bedarf decken. Auch beim Ostschweizer Strafvollzugskonkordat heisst es, die Situation dürfte sich wesentlich entspannen, da weitere Betten geplant seien. Allerdings könnte auch der Bedarf weiter zunehmen: Psychische Krankheiten nehmen – wie in der Normalbevölkerung – auch bei Menschen in Haft zu.

Für den Kanton Tessin könnte es also auch in Zukunft schwierig sein, Klinikplätze für seine psychisch kranken Straftäterinnen und Straftäter zu finden. Umso wichtiger wäre laut Fachleuten eine gesamtschweizerische Bedarfsplanung – damit nicht für bestimmte Gruppen künftig ein Überangebot und in anderen Bereichen nach wie vor ein Mangel bestehen wird.

Rendez-vous, 06.06.2023, 12:30 Uhr

Meistgelesene Artikel