Anastasiia ist 14 Jahre alt. Im Sommer wechselt sie in die 9. Klasse – das letzte offizielle Schuljahr. Was danach kommt? Hätte man sie vor drei Monaten gefragt, hätte sie gesagt: «Nach der 9. Klasse möchte ich nach England, um zu studieren. Dann zurück in die Ukraine, als Übersetzerin oder Anwältin arbeiten. Und wenn ich älter bin, will ich eine eigene Bäckerei führen.»
Das war der Plan. Aber dann kam der Krieg. «Jetzt habe ich keine Pläne mehr. Ich weiss es nicht», sagt Anastasiia und blickt in eine ungewisse Zukunft.
Von Kiew nach Bern
Zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Aisha flüchtete sie vor rund zwei Monaten über Polen in die Schweiz. In der Berner Gemeinde, wo sie unterkam, konnte sie bald darauf die Oberstufe besuchen. «Ich mag die Schule hier. Es gibt interessante Lektionen, wie Kochen oder Handarbeit. Das liebe ich!»
Nur die Sprache bereite ihr Schwierigkeiten, sagt Anastasiia. Sie könne zwar ein bisschen deutsch. «Aber die Kinder hier sprechen Schweizerdeutsch, das ist so schwierig!» Zusätzlich zum Unterricht in der Schweiz besucht Anastasiia online ukrainische Lektionen. Dazu gehören Fächer wie Mathematik, Geschichte oder ukrainische Grammatik.
Mir fällt auf, wie nett die Lehrerinnen und Lehrer hier in der Schweiz sind.
Etwa zwei bis drei Stunden pro Tag sitze sie am Computer, um die ukrainischen Übungen zu lösen, erzählt sie. «Aber ich könnte mehr tun», meint sie selbstkritisch. Immerhin – die wichtige Jahresprüfung, die sie letzte Woche online absolvierte, habe sie bestanden.
In der Ukraine wird jedes Schuljahr mit einem Test abgeschlossen. Nur wer gut genug ist, kommt weiter. Das kennt auch Aisha, 13 Jahre alt. Sie ist seit bald drei Monaten in der Schweiz. Gerade hat Aisha das 7. Schuljahr erfolgreich beendet, ebenfalls online. Jetzt beginnen in der Ukraine die Ferien. Eine dreimonatige Sommerpause! Anders als in der Schweiz.
Und auch sonst gebe es Unterschiede zwischen den Schulsystemen, sagt Aisha. «In der Ukraine haben wir jeden Tag Hausaufgaben – bis zu 5 Stunden.» Auch die Schulzeiten seien anders: Sie würden am Morgen kommen und blieben dann in der Schule bis am Nachmittag, ohne lange Mittagspause. «Auch fällt mir auf, wie nett die Lehrerinnen und Lehrer hier in der Schweiz sind.»
Es sie ihnen wichtig, wie es ihr gehe und dass die Stimmung in der Klasse gut sei, auch die Beziehung unter den Schülerinnen und Schülern. Eigentlich gefalle es ihr hier besser, sagt Aisha.
Wie weiter?
Das grosse Problem für sie sei aber, dass sie in der Ukraine auf dem Weg zur Profi-Athletin in Rhythmischer Gymnastik war. Sechs Tage die Woche habe sie trainiert. Mit nur einem Ziel vor Augen, Athletik-Trainerin zu werden. Sie hätte genau gewusst, was sie dafür hätte tun müssen. In der Ukraine.
Natürlich gibt es auch in der Schweiz Universitäten oder ein Sportstudium. Aber derzeit ist unklar, wie oder ob Ukrainerinnen und Ukrainer sich überhaupt an einer Schweizer Universität einschreiben können. Die Schulsysteme seien zu unterschiedlich, heisst es bei den zuständigen Schweizer Stellen.
Für die beiden ukrainischen Schülerinnen ist die Zukunft ungewiss. Ob sie sich einen anderen beruflichen Weg vorstellen könne? «Vielleicht», sagt Aisha, die Athletin. Ihr Traum würde damit platzen, so viel ist klar. Und auch Anastasiia zuckt mit den Schultern. Im Moment sei sie einfach froh, dass sie überhaupt eine Zukunft habe. Dafür sei sie dankbar.