Vor dem Zivilschutz-Zentrum Riggisberg (BE) stehen rund 40 Frauen und Kinder in der Warteschlange. Einmal pro Woche gibt es hier gratis Lebensmittel für ukrainische Flüchtlinge – Gemüse und Eier von den umliegenden Bauernhöfen, dazu Rest-Artikel aus den Supermärkten – Tomatensauce, Teigwaren, Brot, Schokolade – gesammelt von Freiwilligen.
Rolf Wilhelmi hilft mit, die Esswaren in Säcke zu verpacken, um sie möglichst gerecht zu verteilen – denn der Andrang ist gross. «Ja, es ist gratis. Und sie haben natürlich nicht viel Geld zur Verfügung pro Monat – auch wenn sie in den Aldi gehen oder Prix Garantie kaufen. Aber das hier ist gratis und für sie wirklich ein wertvoller Zustupf», sagt Rolf Wilhelmi und reicht den nächsten Sack mit Lebensmitteln einer Frau aus der Ukraine.
«Das Essen hier ist enorm teuer»
Auch die 36-jährige Alona aus Saporischja wartet auf die Lebensmittel. Ende März, als die Bomben, Raketeneinschläge und die russischen Soldaten immer näher kamen, ist die Ökonomin zusammen mit ihrer Mutter Natalja und ihren beiden Kindern Dima und Viktoria in die Schweiz geflüchtet. Die Vier fanden Unterschlupf bei Christine und Rolf Wilhelmi. Alonas Mann, ihr Vater und ihre Brüder blieben zurück.
Nach wenigen Minuten sind alle Lebensmittel verteilt – Alonas Tochter, die 6-jährige Viktoria, trägt vorsichtig einen Topf mit Schnittlauch; ihre Mutter und Grossmutter je zwei Säcke gefüllt mit Lebensmitteln – das reicht für etwa eine Woche.
«Wir sind sehr dankbar für diese Unterstützung», sagt Alona, und fügt an: «Das Essen hier ist enorm teuer.»
Die versteckte Trauer
Zu Hause im Garten bei Wilhelmis ausserhalb von Riggisberg hüpft der 8-jährige Dima aufs Trampolin, seine Schwester Viktoria spielt mit der Katze und dem Hund. «Tiere helfen», sagt Christine Wilhelmi. «Tiere bringen sie immer wieder zum Lachen und helfen ihnen, die Schwierigkeiten des Alltags zu vergessen.» Der neue Alltag einer ukrainischen Mittelstandsfamilie, die plötzlich zu Flüchtlingen geworden ist.
Seit sechs Wochen leben die Vier in den beiden Zimmern im Erdgeschoss des grossen Hauses von Wilhelmis. «Es passte von Beginn weg», sagt Christine Wilhelmi. «Man merkt, sie wollen uns nicht zur Last fallen – aber es wird jede Woche besser.»
Oft wollen die Ukrainerinnen für ihre Gastgeber kochen, Pfannkuchen, Blinis, ihnen so etwas zurückgeben. Manchmal trinken alle Erwachsenen zusammen ein Glas Wein im Garten. Alles gut? Nicht ganz, sagt Rolf Wilhelmi: «Wenn sie sich nicht beobachtet fühlen oder nichts läuft, dann merkt man so eine traurige, zurückgezogene Grundstimmung, eine Schwermut.»
Das Geld reicht nicht für den ÖV
Tochter Viktoria geht in den lokalen Kindergarten, sie hat bereits ein bisschen Deutsch gelernt. Ihr Bruder Dima besucht die Integrationsklasse – und erhält zusätzlich Onlineunterricht aus der Ukraine.
Weil Wilhelmis etwas abseits wohnen, fahren die Kinder mit dem Postauto zur Schule und in den Kindergarten. Mutter und Grossmutter benützen ebenfalls das Postauto, um zum Deutschkurs ins Nachbardorf zu fahren. Die grosse Sorge ist: Was, wenn ab Ende Monat die ÖV-Tickets für die ukrainischen Flüchtlinge nicht mehr gratis sind? Christine Wilhelmi sagt: «Wir können nicht allen einfach so ein Abonnement kaufen, dafür reicht unser Geld nicht. Da ist noch ein Fragezeichen in der Luft».
Bis jetzt hat Familie Wilhelmi für ihr Engagement für die ukrainischen Flüchtlinge vom Kanton Bern noch kein Geld erhalten.
Die offene Frage nach der Zukunft
Alona und ihre Kinder erhalten zusammen 360 Franken – alle zwei Wochen. Ihre Mutter Natalja muss mit 170 Franken für zwei Wochen auskommen. Das reicht nicht.
«Ich muss unbedingt Arbeit finden, egal was», sagt Alona. Sie hat in der Ukraine für eine Bank gearbeitet – nun hilft sie den lokalen Bauern ab und zu bei der Zwiebelernte. Auch bei einem Bankett hat sie schon ausgeholfen.
Wie es weitergeht, wissen weder sie und ihre Familie – noch ihre Gastfamilie. Klar ist aber allen, dass die ukrainische Familie wohl länger bei Wilhelmis bleibt, als sie zuerst dachten.
Für die Gastgeber ist dies kein Problem. Christine Wilhelmi sagt: «Gerade gestern Abend war das ein Thema. Sie haben uns gefragt, sie haben sich auch damit auseinandergesetzt. Und dann haben wir gesagt – mal schauen.»