Rund drei Monate nach Beginn des Krieges in der Ukraine zieht Justizministerin Karin Keller-Sutter ein positives erstes Fazit zur Aufnahme von Geflüchteten. Dennoch gibt es offene Fragen.
SRF News: Bis jetzt konnten die Behörden stark von der Solidarität in der Bevölkerung profitieren. Gut die Hälfte der Geflüchteten ist privat untergebracht. Solidarität kann aber bröckeln – ist das nicht ein Risiko?
Karin Keller-Sutter: Hier muss man aufpassen, das habe ich von Beginn weg gesagt. Es besteht das Risiko, dass man diesen Krieg etwas vergisst, sobald er ein wenig aus den Medien verschwindet. Ich habe den ehemaligen Kommandanten der Kantonspolizei Zürich, Thomas Würgler, eingesetzt, um mit dem Staatssekretariat für Migration (SEM) mittel- und langfristige Szenarien zu entwickeln. Dies geschieht im Wissen, dass sie unter Umständen nicht eintreten werden.
Die Ukraine ist ein Land im Krieg und man weiss nicht, wie sich dieses Kriegsgeschehen entwickelt.
Die SVP möchte, dass der Schutzstatus möglichst bald nur noch an Personen aus umkämpften Gebieten vergeben wird. Wie stehen Sie dazu?
Die Ukraine ist im Krieg. Es gibt Gebiete, die sind stärker in den Medien, weil sie stärker umkämpft sind. Aber auch die Westukraine wird immer noch bombardiert. Ich lese jeden Tag das Bulletin des schweizerischen Nachrichtendienstes. Es gibt keinen westlichen Staat, der gestützt auf die Berichte des Nachrichtendienstes zur Einsicht gelangt ist, dass die Ukraine jetzt sicher oder zumindest in Teilen sicher sein könnte. Sie ist ein Land im Krieg und man weiss nicht, wie sich dieses Kriegsgeschehen entwickelt. Putin ist sehr unberechenbar. Man muss wissen, dass die Ukrainer visumfrei reisen können. Man könnte sie nicht an der Einreise in den Schengenraum hindern. Sie könnten auch ein Asylgesuch stellen. Und wenn man dazu kommen sollte, einen solchen Status auf Gebiete einzuschränken, muss das international koordiniert sein. Es kann nicht sein, dass die Schweiz entgegen der Beurteilung unseres eigenen Nachrichtendienstes als einziger Schengen-Staat zum Schluss kommt, die Westukraine sei sicher.
Wenn eine Kapazitätsgrenze in der Schweiz erreicht ist, ergibt es dann nicht Sinn, die am meisten bedrohten Leute aus der Ukraine aufzunehmen und diese Unterscheidung zu machen?
Das ist hypothetisch, weil wir gar nicht zu 100 Prozent wissen, woher die Leute kommen. Und man kann auch nicht in einem Kriegsgebiet einfach eine Gemeindeverwaltung anrufen und fragen, ob sie eine Person kennen. Es braucht auf diplomatischer Ebene weitere Bestrebungen, dass dieser Krieg nicht weiter eskaliert. Es gibt schon viel zu viele Opfer. Frauen werden vergewaltigt, es gibt auch mutmasslich Kriegsverbrechen. Wir sollten uns nicht auseinanderdividieren lassen. Das stärkt nur Putin.
Flüchtlinge aus der Ukraine erhalten den Schutzstatus S, Flüchtlinge aus Syrien zum Beispiel nicht, obwohl auch sie aus einem Kriegsgebiet geflüchtet sind. Es gibt Berichte aus Asylunterkünften, dass es ziemlich brodelt. Zu Recht?
Ich finde es nicht richtig, dass man Flüchtlinge gegeneinander ausspielt. Die Schweiz hat den Schutzstatus S zum ersten Mal aktiviert, weil es darum ging, wirklich eine grosse Gruppe von Geflüchteten aufzunehmen. Das Gesetz ist klar: Es geht um die kollektive Aufnahme von Menschen, die vom Krieg und Gewalt bedroht sind. Wir sprechen von einem Land in Europa, das sehr nahe bei uns ist; man musste damit rechnen, dass die Fluchtbewegung schnell ist. Man musste auch verhindern, dass das Asylsystem kollabiert.
Der Schutzstatus S ist Rückkehr-orientiert und soll vorübergehend den Schutz vor Gewalt geben und nicht ein permanentes Bleiberecht in der Schweiz anstreben.
Auf der anderen Seite basiert das Asylsystem – das normale System – darauf, dass man individuell Fluchtgründe geltend machen muss, weil man längerfristig in der Schweiz bleiben will. Man macht geltend, man ist an Leib und Leben bedroht und man will den Schutz der Schweiz, aber permanent. Das ist nicht das Gleiche. Der Schutzstatus S ist Rückkehr-orientiert und soll vorübergehend den Schutz vor Gewalt geben und nicht ein permanentes Bleiberecht in der Schweiz anstreben.
Aber wenn wir die Ereignisse in der Ukraine anschauen, dann ist klar, dass die Menschen weder morgen noch übermorgen zurückgehen können. Was gilt es denn jetzt schon zu tun, um gesellschaftliche Parallelstrukturen zu verhindern?
Es ist sicherlich wichtig, dass man die Rückkehrorientierung aufrechterhält, und das heisst auch die Arbeitsmarktfähigkeit. Es wäre also wünschenswert, wenn diese Personen arbeiten können. Ich habe aber keine Bedenken, dass es zu Parallelstrukturen kommt. Es sind vor allem Frauen und sie integrieren sich gut. Es ist auch eine Frage des Spracherwerbs, der zentral ist.
Das Gespräch führte Eliane Leiser.