Ein grosses Haus mitten im Grünen: Rolf und Christine Wilhelmi wohnen etwas ausserhalb des Dorfes Riggisberg im Berner Gantrischgebiet. Ringsherum Felder, Wald und Ruhe. Die beiden sind 67 Jahre alt, die vier Kinder sind längst erwachsen und ausgezogen.
Das heisst: Wilhelmis haben Platz. Im Erdgeschoss warten zwei Zimmer auf Menschen aus der Ukraine, gemütlich eingerichtet, mit Blick in den Garten. Wilhelmis wollen helfen – wieder einmal.
Seit 2015 haben sie bereits viermal über längere Zeit Geflüchtete beherbergt, ihnen ein Zuhause gegeben. Drei Männer und eine Frau, aus Eritrea, Syrien und Afghanistan wohnten teils länger hier, der eine ganze zwei Jahre lang. «Das waren unsere Mitbewohner, wir waren einfach eine grosse WG», sagt Christine Wilhelmi.
«Wir wollen etwas zurückgeben»
Sie und ihr Mann sind weit gereist, haben viel Gastfreundschaft erfahren und wollen nun etwas davon zurückgeben. Rolf Wilhelmi zeigt die beiden Zimmer: «Je nachdem, wer dann kommt, können wir noch etwas umstellen, ein Bett raus oder so, vielleicht kommt eine Mutter mit Kindern, die alle beieinander schlafen wollen – das sehen wir dann.»
Über 4000 ukrainische Geflüchtete sind in der Schweiz bereits bei Privatpersonen untergekommen. Doch mit einem Bett bereitstellen ist es nicht getan. Was braucht es, damit es klappt?
Rolf Wilhelmi sagt, es sei enorm wichtig, dass die Menschen auch Rückzugsorte hätten, Privatsphäre. «Sie müssen eine Türe schliessen können, einen Raum, wo sie am Computer sein können, schlafen, Musik hören.» Auch ein eigenes Bad und ein eigener Kühlschrank seien wichtige Faktoren für ein gutes Zusammenleben, aber natürlich nicht überall möglich.
Christine Wilhelmi ergänzt: «Tagesstrukturen, die Menschen müssen etwas zu tun haben», und sei es zu Beginn auch nur Rasenmähen oder Jäten. Generell seien ihre Erfahrungen mit den Geflüchteten positiv gewesen, bilanziert Rolf Wilhelmi: «Wir haben nie einen Hammer erlebt, wir mussten nie sagen – so geht es nicht.»
Viele haben psychische Probleme
Der grosse Holztisch in der Wohnküche ist das Zentrum des Hauses – hier wurde viel geredet, gekocht – zusammen gelacht und manchmal auch geweint – und: vor allem zugehört. «Man kann sich oft gar nicht vorstellen, was diese Menschen auf der Flucht erlebt haben», sagt Christine Wilhelmi.
Übers Mittelmeer im Schlauchboot, die dreijährige Odyssee von Afghanistan in die Schweiz, Kriegserfahrungen. Viele Geflüchtete kämpfen mit psychischen Problemen. Das mitzuerleben und auszuhalten sei sehr belastend gewesen. Enorm geholfen hat dem Ehepaar Wilhelmi, dass sie bei offenen Fragen oder Problemen immer eine externe Ansprechperson hatten.
«Das Wunder von Riggisberg»
Oft war diese externe Ansprechperson der Riggisberger Dorfpfarrer Daniel Winkler – der durch sein Engagement als «Flüchtlingspfarrer» national bekannt wurde. Das kam so: 2014 nahm die 3000-Seelen-Gemeinde freiwillig 150 Asylbewerber in ein Durchgangszentrum in der Zivilschutzanlage auf.
Winkler und viele freiwillige Helferinnen und Helfer aus dem Dorf bauten in der Folge zivile Strukturen mit Hilfsangeboten auf – und Vorurteile ab: ein Café als Treffpunkt, Sprach- und Sportkurse, ein Malatelier, Wandergruppen, Hilfe bei Behördengängen. Dabei waren nicht nur Menschen aus der Kirchgemeinde oder Freikirchen, sondern auch viele andere ohne religiöse Überzeugung.
Der Umgang mit den Asylbewerberinnen und Asylbewerbern in der konservativen Landgemeinde machte als «Wunder von Riggisberg» schweizweit Schlagzeilen. Nach der Schliessung der Anlage 2016 blieben etliche Asylbewerbende in der Gegend – bei Privaten – zum Beispiel bei Wilhelmis. Viele von ihnen leben nun selbstständig, haben Ausbildungen gemacht und arbeiten.
Von 2015 für 2022 lernen
Daniel Winkler und die Freiwilligen von Riggisberg haben die Erfahrungen von damals in einer Broschüre festgehalten; was klappte und was nicht. Zwar lassen sich die Learnings von damals nicht eins zu eins übertragen, doch sie sind jetzt, in der nächsten Flüchtlingskrise, wertvoll.
So gelingt die Aufnahme von Geflüchteten
Es brauche Begegnungsmöglichkeiten für diese Menschen, sagt Pfarrer Daniel Winkler: «Es braucht einen Ort, wo sie Landsleute treffen und sich in ihrer Sprache austauschen können.» Ganz einfache Unterstützungsangebote seien enorm wichtig, etwa dass die Menschen in die Natur hinaus könnten, sich bewegten und nicht zu Hause vereinsamen würden, so Winkler weiter.
Nun scheint sich die Geschichte zu wiederholen: Am vergangenen Donnerstag sind 50 Geflüchtete aus der Ukraine im Dorf Riggisberg angekommen. Sie werden privat bei Familien untergebracht, zum Teil wohnen sie auch in einem alten Schulhaus.
Es braucht einen Ort, wo die Geflüchteten Landsleute treffen und sich in ihrer Sprache austauschen können.
Auch die zivilgesellschaftlichen Strukturen sollen wieder aufleben, basierend auf den Erfahrungen von 2015: Das Café, der Treffpunkt, soll wieder öffnen, die Planung hat begonnen. Gesucht werden zudem wieder Freiwillige für Behördengänge, Fahrdienste, Lernunterstützung und Freizeitgestaltung.
Die beiden Zimmer bei Wilhelmis sind bereit für ukrainische Geflüchtete. Bereits Ende März wird eine Frau mit ihren zwei Töchtern einziehen.