Olivier Gérin empfängt uns in seiner Arztpraxis in Bonfol, an der Grenze zu Frankreich. Der französisch-schweizerische Doppelbürger ist Hausarzt – er behandelt seine Patienten sowohl nach der Schulmedizin wie auch mit alternativen Heilmethoden. Zuletzt machte er sich im Jura einen Namen, weil er eine Petition gegen die Maskenpflicht in den Läden im Kanton lancierte.
Der 62-Jährige mit roter Brille hatte sich zuvor nie politisch engagiert. Aber die heutige Maskenpflicht im Jura könne er nicht nachvollziehen, sagt er: «Auf dem Höhepunkt der Epidemie wurde das Maskentragen nicht empfohlen. Da stellt sich die Frage: Warum jetzt?» Warum jetzt, wenn die hohen Fallzahlen vorbei seien. Gérin hält eine zweite Welle für unwahrscheinlich. Für ihn gleicht der Verlauf von Covid-19 eher jenem einer normalen Grippe.
Etwas in mir sagt mir: Das ist nicht kohärent, die Behörden wollen die Verwirrung und die Angst aufrechterhalten.
Seiner Ansicht nach wollen die Behörden mit den heute geltenden Massnahmen Angst schüren. «Etwas in mir sagt mir: Das ist nicht kohärent, die Behörden wollen die Verwirrung und die Angst aufrechterhalten – vielleicht für die Impfungen. Wenn man gesagt hätte, dass alle normal weiterleben können, wäre das schwierig gewesen. Aber wenn man die Angst aufrechterhält, werden die Leute glauben, dass nur eine Impfung das Problem lösen wird.»
Skepsis auch in der Deutschschweiz
Dass der Bund wiederholt gesagt hat, dass er keinen Impfzwang vorsieht, davon lässt sich Olivier Gérin nicht beeindrucken. Er hält vielmehr das von ihm beschriebene Klima der Angst für gefährlich.
Skepsis gegen Corona-Massnahmen gibt es auch in der Deutschschweiz. In Zürich etwa wird die Maskenpflicht in den Läden vor Gericht bekämpft. Auch wenn Umfragen deutlich zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung den Behörden vertraut, wird bereits für ein Referendum gegen die Gesetzesgrundlage für die Covid-App des Bundes gesammelt. Ein weiteres Referendum gegen die Covid-Gesetze, über die in dieser Session entschieden werden, wurde bereits im Voraus angekündigt.
Zu schwach organisiert für eine Bewegung
Der Soziologe Sandro Cattacin von der Universität Genf hat zusammen mit anderen Autoren ein Buch zur Coronakrise veröffentlicht. Könnte hier eine neue Protestbewegung entstehen? Er sagt: «Die neuen Bewegungen sind heute sehr stark auf Empörung und Identität ausgerichtet. Das ist ganz klar auch hier der Fall.» Allerdings könnten diese höchstens zu einem «One Shot» – etwa einer Initiative – führen. «Wobei es dort eine hohe Organisationsfähigkeit braucht, die ich im Moment nicht sehe.»
Einerseits: Leb wieder auf, andererseits: Trage eine Maske. Das ist eine doppelte Message, die für viele Leute ambivalent wirkt.
Dass aber die Massnahmen von Bund und den Kantonen manchen Personen inkohärent erscheinen, kann Cattacin nachvollziehen: «Es ist schwierig, das zu verstehen. Einerseits: Leb wieder auf, andererseits: Trage eine Maske. Das ist eine doppelte Message, die für viele Leute ambivalent wirkt und längerfristig nicht aufrechtzuerhalten ist, wenn nicht mal wieder positive Daten kommen – die Fallzahlen also abnehmen. Das Erfolgserlebnis fehlt im Moment, und das macht die Kommunikation sehr schwer.»
Für den Soziologen ist vor allem wichtig: Proteste und Demonstrationen sollen zugelassen werden, damit ein öffentlicher Diskurs zu den kritischen Meinungen entsteht.