Heute öffnet die Schweiz die Grenzen und hebt alle Einreisebeschränkungen für EU- und Efta-Staaten auf – also auch für Italien. Im Tessin blickt man der Grenzöffnung mit gemischten Gefühlen entgegen, wie der SRF-Mitarbeiter im Tessin, Gerhard Lob, festgestellt hat.
SRF News: Was überwiegt im Tessin? Freude oder Sorge ob der Grenzöffnung?
Gerhard Lob: Es sind gemischte Gefühle. So war etwa in der Sonntagszeitung der Lega zu lesen, dass die Grenzen zu spät geschlossen worden seien und dass sie jetzt zu früh geöffnet würden. Schliesslich gebe es in der angrenzenden Lombardei immer noch viele Infektionsfälle mit dem Coronavirus. Viele Tessiner schauen der Grenzöffnung aber mit Vertrauen entgegen und sehen sie als notwendigen Schritt in Richtung Normalisierung.
Viele Tessiner schauen der Grenzöffnung mit Vertrauen entgegen.
Vor zwei Wochen hatte Italien die Grenze bereits einseitig geöffnet, was in der Schweiz zu Unmut führte. So durften Tessiner zwar nach Italien fahren, dort einkaufen durften sie aber nicht. Wie gingen sie damit um?
Generell war eine gewisse Zurückhaltung zu spüren, nach Italien zu fahren. Die Pandemie steckt den Menschen offenbar noch in den Knochen. Das Einkaufsverbot wiederum war vor allem den Italienern ein Dorn im Auge, denn viele Läden und Detailhändler nahe der Schweizer Grenze leben von den Einkaufstouristen aus der Schweiz. In der Lokalzeitung von Como war denn auch zu lesen, die Schweiz habe sich mit dem Einkaufsverbot einmal mehr etwas Spezielles ausgedacht.
Arbeitskräfte aus Italien durften während des Shutdowns immer ins Tessin, jetzt aber kommen auch die Selbstständigen wieder, etwa Handwerker oder Gärtner. Hat sich die Stimmung gegenüber dieser wirtschaftlichen Konkurrenz während dieser Zeit verändert?
Zu Beginn des Shutdowns gab es viel Goodwill, vor allem gegenüber dem Pflegepersonal und den Ärzten aus Italien. Mit der Normalität, die jetzt wieder einkehrt, nehmen aber die gegenseitigen Spannungen und Sticheleien zwischen Tessinern und Italienern wieder zu.
Justizdirektor Norman Gobbi befürchtet, dass bald wieder Schwarzarbeiter aus Italien unterwegs sind.
Auch dürfte jetzt die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wieder erstarken: Viele Tessiner sind in Kurzarbeit, während die Situation für manche Italiener noch dramatischer ist. Sie könnten versucht sein, im Tessin eine Arbeit zu suchen. So befürchtet etwa der Tessiner Justizdirektor Norman Gobbi, dass bald wieder Schwarzarbeiter aus dem Nachbarland unterwegs sein könnten.
Manche Tessiner möchten die Grenze gerne geschlossen lassen. Sie argumentieren, dass die Kriminalität zurückgegangen und die wirtschaftliche Konkurrenz kleiner sei. Was ist da dran?
Der Shutdown hat die Kriminalität insgesamt reduziert – nicht nur im Tessin, sondern auch in Italien. So ist der Drogenschmuggel infolge der geschlossenen Grenzen praktisch zum Erliegen gekommen und es gab weniger Einbrüche. Angesichts dessen ist die alte Diskussion im Tessin wieder aufgeflammt, an der Grenze systematische Kontrollen vorzunehmen, was wegen des Schengenvertrags allerdings ausgeschlossen ist.
Die alte Diskussion um systematische Grenzkontrollen ist wiederaufgeflammt.
Auch hat der Tessiner Detailhandel während des Shutdowns sicher davon profitiert, dass niemand mehr zum Einkaufen nach Italien fahren konnte. Doch diese Zunahme macht die negativen Konsequenzen des Shutdowns für die Gesamtwirtschaft im Tessin sicher nicht wett.
Das Gespräch führte Claudia Weber.