Italien schränkt die Bewegungsfreiheit der Bürger ein, schliesst alle Schulen, Universitäten und Kindergärten und setzt die Sportveranstaltungen aus. Nur wer arbeiten geht, soll sich noch einigermassen frei bewegen dürfen. Trotzdem bleibt die Grenze zum Tessin offen. Für die Schweiz gleichsam Risiko und Notwendigkeit.
Trotz einschneidender Massnahmen rollt der Verkehr in Chiasso fast ungebremst. Knapp 70'000 Grenzgängerinnen und Grenzgänger pendeln aus Italien zur Arbeit ins Tessin. Die Zahl hat sich in den letzten 15 Jahren fast verdoppelt. Angetrieben von der Personenfreizügigkeit haben sich das Tessin und Norditalien eng vernetzt, die Wirtschaftsräume sind zusammengewachsen. Auch wenn sie im Südkanton keinen sehr guten Ruf geniessen, so haben die «Frontalieri» der Tessiner Wirtschaft einen starken Boom beschert. Sie sind systemrelevant für den Südkanton.
Enormer Schaden für die Wirtschaft
Aktuell sind die Grenzgänger aber auch ein grosses Risiko. Sie beeinträchtigen die Wirksamkeit der Schweizer Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus stark. Gestern Abend vermeldete Italien 1800 Neuinfizierte und fast 100 weitere Todesopfer innerhalb eines Tages. Diese Welle lässt sich nicht mehr stoppen und macht vor der Grenze nicht halt. Die Grenzen zu schliessen, würde gegen die Virusverbreitung vermutlich helfen – aber nur mit enormem Schaden für die Wirtschaft.
Auch die Spitäler würde eine Grenzschliessung massiv in ihrer Leistungsfähigkeit einschränken. So stellen die Grenzgänger in manchen Spitälern bis zu einem Drittel der Angestellten. Fallen diese aus, gibt es einen grossen Personalengpass mitten in einer der grössten Herausforderungen, welche das Gesundheitswesen in den letzten Jahrzehnten zu meistern hatte. Ein klassisches Dilemma.
Ohne Eindämmung drohen schärfere Massnahmen
Letztlich hängt alles an der Frage, wie gefährlich man die Covid-19-Erkrankung einstuft. Sind die Folgen für die Risikogruppen und die Gesellschaft allgemein so gross, dass man den Schaden am Wirtschaftsstandort in Kauf nimmt? Diese Abwägung gilt es in der Schweiz und exemplarisch im Tessin aktuell vorzunehmen.
Anders als in Italien haben sich die Schweizer Behörden momentan noch für die Wirtschaft und somit gegen eine Grenzschliessung entschieden. Diese Entscheidung dürfte allerdings ins Wanken geraten, wenn sich der italienische Infektionsherd in vollem Masse auf das Tessin ausdehnt. Dann ist es ein durchaus realistisches Szenario, dass die Schweiz zu einschneidenderen Massnahmen greift und auch Grenzen oder einzelne Regionen abriegelt.