Liebeskummer, Einsamkeit, Gewalt, Scham. Mit diesen und weiteren schweren Themen sind Sonja Graf, Isabelle Schreier und ihre Kolleginnen und Kollegen in der Berner Heiliggeistkirche konfrontiert. Sie hören zu. Und das viermal pro Woche im Rahmen von «ganz Ohr», einer Aktion der offenen Kirche Bern.
In der Adventszeit kann so ein Angebot besonders wichtig sein: «Diese Zeit verändert die Menschen. Es gibt zwar nicht mehr Gespräche als sonst, aber sie sind vielleicht etwas schwerer. Die Leute sind aufgewühlt», sagt Sonja Graf, Zuhörerin bei «ganz Ohr».
Es suchen uns auch viele Männer auf, nicht nur einsame ältere Damen.
Die Leute, die so ein offenes Ohr brauchen, sind ganz unterschiedlich. Jüngere Leute, Frauen, Männer. Aber eine Tendenz gebe es schon, sagt Isabelle Schreier: «Es sind doch vermehrt über 50-Jährige, die uns aufsuchen. Auch viele Männer, nicht nur einsame ältere Damen.»
Was die Leute bedrückt, sei sehr unterschiedlich und oft unerwartet, sagt Sonja Graf: «Einmal kam ein junger, gut gekleideter Mann zu mir. Er sagte, er habe Drogenprobleme und müsse vor Gericht. Was ihn aber wirklich bedrückte, war die Scham, die er deshalb vor seinen Eltern hatte.»
Für ‹Stammgäste› sind wir fast wie eine zweite Familie.
Neben den Leuten, die einmalig jemanden bräuchten, gebe es auch Stammgäste, so Graf: «Sie haben oftmals keine Familie, wir sind da vielleicht eine Ersatzfamilie.» Zu nahe dürfe man die Schicksale der Leute aber nicht an sich heranlassen. Oftmals erzählen die Besucherinnen und Besucher ihre Geschichten mit voller Wucht und ungefiltert.
Nähere Bekanntschaften, der Austausch von Telefonnummern oder Treffen ausserhalb des Settings seien nicht vorgesehen: «Das ist die professionelle Distanz, die wir wahren müssen» sagt Sonja Graf.
Der Austausch findet im Kirchenchor, links neben der Kanzel, statt. Also im offenen Raum. Weniger privat werden die Gespräche dadurch aber nicht. In der separaten Ecke wird darauf geachtet, dass ein geschützter Raum entsteht, in dem sich die Gäste so wohl wie möglich fühlen.
Schwierige Momente gehören als «Zuhörerin» dazu
Wo es bei manchen Leuten reicht, wenn sie ihre Sorgen abladen können, ist es mit Zuhören bei anderen nicht getan: «Wenn eine Person zwei Minuten über eine schwierige Geschichte redet, können das sehr lange zwei Minuten werden.» Man fühle sich beim Zuhören etwas hilflos, sagt Isabelle Schreier, «solche Momente muss man aber aushalten können».
In der heutigen Gesellschaft wird oftmals nicht mehr gut zugehört.
Zuhören ist also nicht immer einfach. Vielleicht ein Grund dafür, dass diese Fähigkeit in unserer Gesellschaft nicht mehr wirklich kultiviert wird? Diese Frage beantwortet Sonja Graf nicht, stellt aber fest: «Wenn jemand heutzutage etwas erzählt, heisst es sofort: ‹Ja, ich habe auch!› Wir versuchen hier einen Gegenpol zu schaffen, indem wir einfach nur zuhören.»
Es ist also an allen – besonders in der Adventszeit – zuzuhören. Obwohl es manchmal schwierig ist, ist es doch etwas sehr Wichtiges.