Im Restaurant «Altes Tramdepot» am Berner Bärengraben kommen Burger und selbstgebrautes Bier auf den Tisch.
Im Visier der Gäste steht aber auch das Inventar: Pro Woche verschwinden zwei Pfeffermühlen à 15 Franken. «Wir haben es mit überdimensionierten Mühlen probiert, aber auch sie werden einfach eingepackt», sagt Geschäftsführer Thomas Baumann.
Biergläser für 10'000 Franken geklaut
Jeden Tag verschwinden zudem 10 Biergläser. Der Ersatz geht mit jährlich über 10'000 Franken ins Geld. Damit nicht genug: Gegen Alltagsklau von WC-Papier musste die Berner Beiz ebenfalls aufrüsten.
Mittlerweile sind die Papierspender diebstahlsicher und ein intelligenter Abrollmechanismus zieht nach drei WC-Papierblättern die Reissleine.
Anders geht es nicht mehr. Würden Ersatzrollen gelagert, würden sie zu Hunderten in Rucksäcke gepackt, sagt Thomas Baumann. Jüngst rieb er sich verwundert die Augen. Sogar ein EC-Zahlungsterminal für 120 Franken wurde von Gästen einfach mitgenommen: «Wer braucht so etwas schon zu Hause», wundert sich Baumann.
Hotelgäste entwenden verschraubten Fernseher
Nicht nur Gaststätten, sondern auch in Gasthäusern verschwinden zahllose Gegenstände. In den Berner Messehotels am Guisanplatz benötigt Hotelpersonal längst auch detektivische Fähigkeiten. Pro Woche fehlen zwei Haarföhne. Und vom Kaffeelöffel, über Kaffeemaschinen bis zum in der Wand verschraubten Fernseher haben Hotelgäste schon alles mitgehen lassen.
Lassen sich Diebstähle eindeutig Gästen zuschreiben, belastet Geschäftsführer Matthias Beyeler beispielsweise den Haarföhn für 50 Franken auf den Kreditkarten der Gäste nach. Nicht alle Gäste zeigten jedoch Verständnis: «Ein Klassiker ist, dass die Leute die Tat einfach abstreiten.»
Geschäftsführer Beyeler erklärt sich den Alltagsklau in Hotels damit, dass Langfinger dem Personal beim Klauen nicht «in die Augen schauen» müssten und es sich vielfach auch um Bagatellen handeln würde. In den allermeisten Fällen kommen die Langfinger in den Berner Messehotels denn auch straffrei davon. Der Aufwand für eine Anzeige übersteige meist die Deliktsumme, begründet Beyeler.
Mehr Diebstähle wegen Self-Scanning-Kassen
Belastbare Zahlen zum Alltagsklau gibt es einzig zu Ladendiebstählen. In Bern sind die Delikte laut der neusten Kriminalstatistik um acht Prozent gestiegen.
Ein Grund sind Self-Scanning-Kassen, weiss Ladendetektiv Mic Veljiji aus seiner langjährigen Erfahrung.
Jeder und jede kann sich berechtigt fühlen, Waren gratis mitgehen zu lassen.
Viele Strafanzeigen gehen über seinen Tisch – und doch existiert für ihn der Prototyp Ladendieb oder Ladendiebin schlicht nicht: «Jeder und jede kann sich berechtigt fühlen, Waren gratis mitgehen zu lassen». Sei es, weil er sich als langjähriger Kunde einer Marke oder Handelskette zu einem Rabatt berechtigt fühlt, sei es, weil er sich für den Bezahlvorgang an der Self-Scanning-Kasse nach eigenem Gutdünken entschädigt sieht.
Ahnungslose Experten, vage Hypothesen auf der Strasse
Was steckt hinter dem offenbar weitverbreiteten Phänomen des Alltagsklaus? SRF fragte an der Universität Bern nach. Doch weder Psychologen, Soziologen noch Kriminologen forschen dazu. Auf der Strasse wollen viele Bernerinnen und Berner einer Publikumsumfrage zufolge meist gar nichts oder höchstens Kleinigkeiten wie Seifen, Löffel oder Trinkgläser mitgenommen haben.
Die vielen vermissten Gegenstände lassen sich durch Alkoholkonsum, Gruppendruck oder das Sammeln von Erinnerungsstücken erklären: «Es ist halt ein Kavaliersdelikt, dass man bei irgendetwas, was einem nicht gehört, das Gefühl hat, man könne es einfach so mitnehmen», sinniert ein Passant.
Sogar Hochwasser-Sandsäcke werden gestohlen
Offensichtlich macht der Alltagsklau vor nichts, aber auch gar nichts Halt. Kürzlich sah sich der Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause in einer Hochwassersituation zum Handeln gezwungen: In Notsituationen stellt die Stadt Bern zwar immer noch Sandsäcke zum Schutz von Privatliegenschaften zur Verfügung, aber diese Information wird nicht mehr breit kommuniziert. Private haben nämlich die Sandsäcke zweckentfremdet, um ihre Sandkästen zu füllen.
Ein paar Meter über der Aare im Botanischen Garten ist das Orchideenhaus an Wochenenden geschlossen. Im vergangenen Jahr haben Diebe rund 30 Pflanzen aus der Sammlung geklaut.
Anzeigen als einziges Mittel
Auch auf Friedhöfen in der Stadt und der Region Bern ist der Klau von Blumen und Grabschmuck eine Realität. Der Friedhof Köniz verzeichnet rund zehn Diebstähle pro Jahr. Geklaut wird vorab an Weihnachten, an Allerheiligen oder am Muttertag. Für den Könizer Gemeinderat Hansueli Pestalozzi ist dies absolut inakzeptabel: «Erwischen wir jemand in flagranti, gibt es eine Anzeige», stellt er unmissverständlich klar.
Muss das Phänomen des Alltagsklaus einfach hingenommen werden? Fabian Ilg, Geschäftsleiter der Schweizerischen Kriminalprävention, sagt nein und rät zum konsequenten Anzeigen. Eine Anzeige zeigt Dieben Grenzen auf, auch wenn der Aufwand die Deliktsumme oft übersteigt.