Noch immer wählen junge Frauen und Männer ihren Beruf mit Blick aufs traditionelle Rollenverständnis. Und Frauen trauen sich noch immer weniger zu, obwohl sie in der Schule besser sind. Soziologie-Professorin Irene Kriesi reflektiert die Hintergründe.
SRF News: Frau Kriesi, Mädchen sind in der Schule oft besser als Jungen, mehr von ihnen kommen ins Gymi. Und dennoch sind sie beruflich weniger ambitioniert. Warum?
Irene Kriesi: Dafür dürften traditionelle Geschlechterrollenvorstellungen verantwortlich sein, die den Männern die Hauptverantwortung für das Familieneinkommen und den Frauen die Hauptverantwortung für die Kinder zuweisen. Dies führt dazu, dass junge Männer den Einkommens- und Karrieremöglichkeiten von Berufen mehr Gewicht beimessen als junge Frauen.
Eltern, Berufsberaterinnen und Lehrpersonen steuern Jugendliche oft in Richtung geschlechtstypischer Berufe.
15-jährige und, noch stärker, 21-jährige Frauen geben mehr «helfende» Berufe als Ziel an als Männer, die stark auf technisch geprägte Berufe setzen.
Für junge Männer, die sich die Rolle des Familienernährers vorstellen sowie für junge Frauen, die aus familiären Gründen Teilzeit arbeiten wollen, ist die Wahl eines geschlechts-untypischen Berufs wenig attraktiv. Dazu kommt, dass Eltern, Berufsberaterinnen und Lehrpersonen Jugendliche oft in Richtung geschlechtstypischer Berufe steuern.
Lässt sich das ändern? Muss sich das ändern?
Das lässt sich ändern, wie das Beispiel Primarlehrer zeigt: Der Beruf war vor einigen Jahrzehnten noch stark männerdominiert. Heute ist es umgekehrt. Und ja, das sollte sich ändern: Viele Frauen-dominierte Berufe sind schlechter bezahlt und bieten weniger Aufstiegsmöglichkeiten.
Eine ausgeglichenere Verteilung von Männern und Frauen kann auch dazu beitragen, dass der Fachkräftemangel in MINT-Berufen (Mathematik, Ingenieurwesen und Technik) und den Gesundheitsberufen gemildert wird.
Interessanterweise verändert sich der Berufswunsch zwischen 15 und 21 Jahren bei den Männern viel stärker als bei den Frauen – und zwar hin zu Status-höheren Berufen. Es müsste doch umgekehrt sein, weil mehr junge Frauen das Gymi besuchen.
Die Frauen besuchen häufiger das Gymnasium. Junge Männer wählen häufiger den Weg über eine Berufslehre und absolvieren die Berufsmatura oder eine höhere Berufsbildung. Die höhere Gymnasialquote bei den jungen Frauen sagt deshalb noch wenig über den später erreichten Bildungsabschluss und den Berufserfolg aus.
Die höhere Gymnasialquote bei den jungen Frauen sagt wenig über den später erreichten Berufserfolg aus.
Sie haben auch festgestellt: Wer eine Berufsausbildung mit eher tiefen Anforderungen startet, baut auch seine Aspirationen ab. Könnten diese Jugendlichen besser animiert werden, an ihre Chancen zu glauben?
Die Mehrheit der Jugendlichen steht in unserem Schulsystem vor dem Problem, dass sie sich früh für einen Ausbildungsberuf entscheiden müssen. In dieser Situation rücken automatisch die Berufe ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die im Alter von 15 Jahren erreichbar scheinen. Oder eben einem Geschlechterklischee entsprechen.
Wichtig scheint mir deshalb für die Berufswahlphase, Junge dazu zu bewegen, langfristig zu denken und sich auch darüber zu informieren, welche Weiterbildungs- und Verdienstmöglichkeiten ein Erstberuf bietet. Das gilt für junge Frauen vielleicht noch mehr als für junge Männer. Zudem wäre es nützlich, wenn die tatsächliche Durchlässigkeit des Bildungssystems optimiert würde, damit Richtungswechsel einfacher werden. Eine Möglichkeit dazu besteht in der Förderung der Berufsmaturität, die den Jugendlichen den Zugang an die Hochschulen ermöglicht.
Das Gespräch führte Michael Perricone.