Im Dezember 2014 waren ein 15-jähriges Mädchen und sein 16-jähriger Bruder aus Winterthur plötzlich verschwunden. Sie reisten in die Türkei, um von dort in das ein halbes Jahr zuvor ausgerufene Kalifat der Terrororganisation Islamischer Staat zu gelangen. Radikalisiert hatten sie sich im Umfeld der Winterthurer An-Nur-Moschee, die seither immer wieder in den Schlagzeilen war. Winterthur galt plötzlich als Islamismus-Hotspot der Schweiz.
Die Behörden reagierten mit der Schaffung einer neuen Fachstelle für Extremismus und Gewaltprävention. In den fünf Jahren seit der Gründung hat die Fachstelle 230 Beratungen durchgeführt. Besonders Lehrerinnen oder Sozialarbeiter haben Rat gesucht. Aber auch Eltern oder Nachbarn haben sich gemeldet, weil sie in ihrem Umfeld eine Radikalisierung festgestellt hatten.
In den meisten Fällen allerdings lagen keine Hinweise auf Gewaltbereitschaft oder Selbstgefährdung vor, wie die Zahlen der Fachstelle zeigen. Nur in 19 der 230 Fälle wurde die Polizei eingeschaltet, weil der Verdacht bestand, dass die gemeldete Person sich oder andere hätte gefährden können.
Vor allem die unter 16-Jährigen hätten der Fachstelle nach der Gründung vor fünf Jahren Sorgen bereitet, sagt Urs Allemann, der die Leitung der neuen Extremismus-Fachstelle damals übernommen hatte.
Im Verlaufe der Jahre habe sich aber gezeigt, dass die 18 bis 25-Jährigen häufiger von Radikalisierung betroffen seien. Solche Erkenntnisse seien wichtig für Winterthur, so Allemann. «Wir konnten der Stadt Sicherheit im Umgang mit Radikalisierung und Extremismus bieten.»
Für Sicherheit soll die Fachstelle für Radikalisierung und Gewaltprävention auch in den nächsten Jahren sorgen – aber nicht mehr unter der Leitung von Urs Allemann. Nach fünf Jahren übergibt er sein Amt an seine Nachfolgerin Serena Gut. Sie steht vor grossen Herausforderungen. Denn die Arbeit der Fachstelle wurde komplexer und die Fälle vielfältiger. Stand am Anfang vor allem das Thema Islamismus im Zentrum, sind heute neue Formen von Extremismus dazugekommen.
Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur
Rechtsextremismus sei heute ein bedeutendes Thema bei der Fachstelle, sagt Serena Gut. Vor allem aber sind es vermehrt auch Verschwörungstheorien, die besonders im Zusammenhang mit Corona zugenommen haben. Auf diese neue Situation sei man gut vorbereitet, sagt Gut.
Gerade weil oft nicht klar sei, welche Themen im Bereich Radikalisierung in Zukunft aktuell sein werden, brauche es eine solche Präventionsfachstelle, sagt der zuständige Winterthurer Stadtrat Nicolas Galladé. «Wir haben eine zunehmend polarisierte Gesellschaft, weniger Medienkompetenz, viele Verschwörungstheorien – das schafft Verunsicherung.» Dafür brauche es eine Anlaufstelle. Eine solche Fachstelle nach Winterthurer Vorbild haben übrigens auch andere Schweizer Städte eingerichtet: Basel, Bern oder Genf.