Wie wäre es, einen Shutdown oder gar einen Lockdown zu verhindern, aber gleichzeitig die Zahl der Hospitalisierungen und Todesfälle niedrig zu halten?Und dabei möglichst vielen möglichst viele Freiheiten zu lassen und einen Schritt weiter in Richtung Herdenimmunität zu kommen.
Wie steht es um die Chance auf eine Herdenimmunität beim Coronavirus? Also auf so viel Immunität gegen das Virus in der Bevölkerung, dass sich das Virus nicht mehr weiterverbreiten kann?
Nicht so einfach wie bei Masern
Marcel Tanner, Experte für Public Health und Mitglied der Science Task Force des Bundes, sagt: «Es hat sich gezeigt, dass die Immunantwort, also der dauernde Schutz durch das Immunsystem, nicht so ideal ist wie etwa bei einer Maserninfektion. Da sind Sie einmal infiziert, überleben die Krankheit und sind lebenslang geschützt. Das ist bei Corona nicht der Fall.»
Es ist also nicht so einfach wie bei Masern. Wie lange eine Immunität gegen Corona nach einer Infektion hält und warum sie bei manchen Menschen stärker ist, dazu erschienen in den vergangenen Wochen immer wieder wissenschaftliche Studien. Sie scheinen sich aber in ihren Ergebnissen zu widersprechen.
Braucht es also noch mehr Forschung? Tanner sagt: «Man hat nie genug Daten, um alles zu verstehen. Aber man hat immer genug Daten, um bereits eine Entscheidung für die öffentliche Gesundheit zu lancieren.»
Zu starke Dynamik
Tanner ist überzeugt, dass das, was man weiss, schon eine Entscheidung für den Moment ermöglicht. Derzeit sei es zu früh, um die Massnahmen für die Mehrheit zu lockern und nur noch die Risikogruppen zu schützen: «Ich würde jetzt nicht alles aufheben und nur noch die Vulnerablen schützen, weil wir noch in einer Situation stehen, in der wir noch eine hohe Übertragungsrate haben.»
Ohne Massnahmen würde nach Einschätzung von Tanner das Infektionsgeschehen zu sehr an Dynamik gewinnen. Den Vorschlag, Risikogruppen basierend auf den bisherigen Erfahrungen besser zu schützen, wischt er dennoch nicht vom Tisch: «Weil wir eben keinen Lockdown wollen, würde ich schauen, wie wir die vulnerablen Gruppen besser schützen können.»
Konkret schlägt Tanner vor: «Altersheime mit Stockwerken, auf denen sich die Leute frei bewegen können und anderen Etagen, wo grössere Vorsicht bei Besuchen gemacht wird. Das sind alles machbare Lösungen im Alltag.»
Sind Ältere tatsächlich stärker gefährdet?
An der Diskussion um Herdenimmunität und Schutz von Risikogruppen ist auch Pietro Vernazza, Infektiologe am Kantonsspital St. Gallen, beteiligt. «Das Wichtigste ist auch jetzt, dass wir die Überlastung des Gesundheitssystems im Auge haben und dass wir das auf jeden Fall verhindern.» Er fordert aber, dass noch besser untersucht werden müsse, wie viel stärker ältere Menschen und andere Risikogruppen tatsächlich durch das Coronavirus gefährdet seien.
«Wie viel höher das Risiko bei älteren Personen ist, das wissen wir nicht so genau. Mir scheint, dass wir diese Gefahr etwas überschätzen.» Es gebe, vermutet Vernazza, eine Dunkelziffer an milden Fällen, auch unter älteren Personen und in Risikogruppen. Er plädiert deshalb für ein besseres, genaueres Monitoring, um zukünftige Entscheidungen zu Corona auf eine noch solidere Grundlage zu stellen.