18.Juni 2017: Ein Flaggenmeer in weiss und rot, Tausende auf den Strassen von Moutier und ein Riesenjubel, als das Resultat klar ist: Moutier will den Kanton wechseln. «Das war ein Freudenschrei aus den jurassischen Lungen», sagt Pierre-André Comte. Der 66-Jährige ist seit 50 Jahren Separatist und Aktivist mit Leib und Seele.
Trauer und Enttäuschung hingegen bei den Verlierern, den Berntreuen: «Es war, als hätte man uns ein Stück der Eingeweide herausgerissen», erinnert sich Roland Benoit, 72-jährig, ebenfalls Aktivist seit Jahrzehnten – auf der anderen, der probernischen Seite. «Denn die Stadt Moutier ist mit ihren knapp 8000 Menschen der wichtigste Ort des Berner Juras.»
137 Stimmen machten den Unterschied
Die Abstimmung in Moutier zum Kantonswechsel findet unter der Aufsicht des Bundes statt. Sie soll den Jurakonflikt beenden – ein Schlusspunkt nach dem jahrzehntelangen Konflikt.
Doch es kommt anders. Das Resultat ist knapp, sehr knapp – 137 Stimmen machen den Unterschied. Kurz nach der Abstimmung wird klar: Es gibt Unregelmässigkeiten – es geht um fiktive Wohnsitze, Probleme mit dem Stimmregister und Abstimmungstourismus. Die Berner Behörden annullieren die Abstimmung.
In Moutier gehen erneut Tausende Separatisten auf die Strasse, dieses Mal in Trauerkleidung, ein Sarg führt den Umzug an. Symbolisch wird die Demokratie zu Grabe getragen. Die Abstimmung, welche den Jurakonflikt hätte beenden sollen, facht ihn neu an. Der Bund, die beiden Kantone und Moutier – alle stehen vor einem Scherbenhaufen.
Der Konflikt schwelt seit 1815 – und bricht 1947 aus
Die Wurzeln des Konfliktes gehen zurück auf den Wiener Kongress 1815: Damals wurden die Schweizer Grenzen neu gezogen. Bern erhielt das Territorium des Fürstbistums Basel zugesprochen – das Gebiet des heutigen Juras. Doch die Berner hätten lieber die Waadt und den Aargau gehabt, der Jura ist quasi ein Trostpreis.
Das führt zu Spannungen – die Jurassier fühlen sich von den Bernern vernachlässigt, es gibt keine gemeinsame Sprache und keine gemeinsame Kultur und: Bern ist protestantisch, der Jura überwiegend katholisch. Richtig bricht der Jurakonflikt aber erst 1947 aus – mit der Affäre um den jurassischen Regierungsrat Georges Möckli. Das berner Kantonsparlament verweigert ihm das Baudepartement – weil er Französisch spricht.
Ein kapitaler politischer Fehler der Berner: «Eine ungeheure Ungerechtigkeit, der Beweis, dass der bernische Grosse Rat den Jura als eine Art Unterregion betrachtet, der weniger Rechte hat als der Rest des Kantons», regt sich Separatist Pierre-André Comte immer noch auf.
Die Jahre der Gewalt
Der Schaden ist angerichtet. Im Jura organisiert sich der Widerstand nun ernsthaft – mit der Gründung der Separatistenorganisation «Rassemblement Jurassien RJ» und der separatistischen Jugendorganisation Béliers. Die Béliers machen bald mit spektakulären Aktionen auf sich und die Jurafrage aufmerksam – sie dringen in den Nationalratssaal ein, teeren Tramschienen zu, verbrennen demonstrativ ihre Militärbüchlein.
In den 1960er Jahren spitzt sich der Konflikt zu: Eine kleine Gruppe von radikalen Separatisten nennt sich FLJ (Front de Libération Jurassien) und verübt Brand- und Sprengstoffanschläge.
Die Berner Regierung handelt: 1967 legt sie einen Plan vor, wie der Jura über seine Selbstbestimmung befinden könnte. Die 1970er-Jahre bringen mehrere Abstimmungen und 1978 die Gründung eines neuen Kantons Jura mit den drei nordjurassischen Bezirken Delémont, Ajoie und Franches-Montagnes. Die drei Bezirke im Südjura – La Neuveville, Courtelary und Moutier – wollen bei Bern bleiben.
Doch die Geburtswehen des neuen Kantons sind heftig, die Frage der Grenzziehung birgt politischen Sprengstoff: Immer wieder geraten Separatisten und Berntreue aneinander.
Es fehlte damals nicht viel zum Bürgerkrieg.
Mitte der 1970er Jahre kommt es zu schweren Ausschreitungen in Moutier. Der Kanton Bern schickt Polizei-Grenadiere. Panzerfahrzeuge in Moutiers Strassen, Stacheldrahtsperren – die Bilder schrecken die ganze Schweiz auf.
Moutier wird damals mit dem nordirischen Belfast verglichen. Überspitzt? Manche sagen, der Jurakonflikt hätte zum Bürgerkrieg eskalieren können. Roland Benoit, der Berntreue, sagt: «Es fehlte nicht viel damals. Aber es gibt auch viele Leute im Jura, die nie zugelassen hätten, dass es so weit hätte kommen können.»
Neues Gremium und geheime Gespräche
1994 will der Bund den immer noch schwelenden Jurakonflikt definitiv lösen. Er ruft ein neuartiges Gremium ins Leben, eine Art Parlament mit je zwölf Vertreterinnen der Kantone Bern und Jura unter dem Patronat des Bundes: die Assemblé Interjurassienne (AIJ), die interjurassische Versammlung. Sie soll Bewegung in die verfahrene Lage bringen, Lösungsvorschläge machen. Die ersten Treffen der AIJ finden unter Polizeischutz statt. Doch langsam weichen sich die Fronten auf.
Was niemand weiss: Parallel dazu gibt auch Geheimgespräche. Die beiden Lager – Separatisten und Berntreue – treffen sich auf eigene Faust. Auf neutralem Grund, im Kanton Solothurn. Was lange ein Geheimnis war, bestätigt nun Separatistenführer Pierre-André Comte. «Während drei, vier Jahren haben sich die Chefs der Separatisten und der Berntreuen insgeheim getroffen – im solothurnischen Schloss Waldegg.» Roland Benoit, der ehemalige Anführer der Berntreuen, bestätigt dies ebenfalls.
Dass der Dialog nie ganz abreisst, ist wohl mit ein Grund dafür, dass der Konflikt auch nie vollends ausartet. Hinter den Kulissen arbeiten die AIJ, die beiden Kantone, Bern und Jura, sowie der Bund weiter an Lösungsvorschlägen.
Nur die Gemeinde Moutier wollte zum Jura
Resultat ist eine erneute Abstimmung im Jahr 2013: Die drei Bezirke im bernischen Südjura – Moutier, Courtelary und La Neuveville – stimmen nochmals über die Kantonszugehörigkeit ab. Parallel dazu stimmt auch der Kanton Jura darüber ab. Zusätzlich gibt es eine Klausel: Gemeinden, die anders stimmen als ihr Bezirk, haben die Möglichkeit, noch einmal abzustimmen.
Das ist in Moutier der Fall: 2013 gibt es dort eine Mehrheit für den Kantonswechsel, obschon der Bezirk, wie auch der Rest des Südjuras, bei Bern bleiben will. Deswegen braucht es eine erneute Abstimmung 2017. Diese wird nun Ende März wiederholt. Der Bund, die beiden Kantone Bern und Jura betonen, dies sein nun das Ende des Jurakonflikts.
Ob dies stimmt, wird sich zeigen.