Viele Experten sind skeptisch, dass Grenzschliessungen die Ausbreitung von Viren verhindern können. Die Weltgesundheitsorganisation, die WHO, zum Beispiel forderte die Regierungen dazu auf, darauf zu verzichten. Der Nutzen sei fraglich und die Auswirkungen auf die Wirtschaft zu gross. Harte Daten zum Thema sind aber schwer zu finden, weil viele Faktoren eine Rolle spielen und Untersuchungen darum schwierig sind.
Die Forschungsgruppe von Ellen Kuhl an der kalifornischen Stanford-University hat im Computer simuliert, wie sich das Virus in Europa ohne die Reisebeschränkungen seit dem 17. März verbreitet hätte. «Was wir zeigen konnten, war, dass eine uneingeschränkte Mobilität die Verbreitung der Krankheit erheblich beschleunigt hätte, insbesondere in Mitteleuropa, Spanien und Frankreich», so Kuhl.
ETH kommt zum gleichen Ergebnis
Deutschland und Österreich, aber auch schwer betroffene Länder wie Frankreich und Spanien hätten heute deutlich mehr Corona-Fälle, wenn der Flugverkehr nicht lahmgelegt worden wäre.
Es zeichnet sich ab, dass die Grenzschliessungen unter Umständen sogar mehr als 20 Prozent der Neuinfektionen reduziert haben können.
Die Studie aus Stanford hat den Landverkehr nicht berücksichtigt und auch die Schweiz war nicht Teil der Analyse. Eine Studie der ETH Zürich hat beides miteinbezogen, und sie komme zum ähnlichen Ergebnis, sagt Stefan Feuerriegel von der ETH: «Es zeichnet sich ab, dass die Grenzschliessungen unter Umständen sogar mehr als 20 Prozent der Neuinfektionen reduziert haben können, ähnlich wie auch andere Instrumente.» Er meint zum Beispiel das Verbot von Grossveranstaltungen.
Studie der Stanford-University
Die Grenzschliessungen hätten den Ländern wertvolle Zeit verschafft, sagt Ellen Kuhl: «Viele Länder haben dadurch die Zeit gewonnen, um ihre Gesundheitssysteme entsprechend vorbereiten zu können.»
WHO wollte Zunahme der Armut verhindern
Warum aber waren so viele Experten und die WHO so skeptisch gegenüber Grenzschliessungen? Die Corona-Pandemie sei für alle neu und alle hätten dazugelernt, sagt Eskild Petersen, der Vorsitzende der europäischen Gesellschaft für klinische Mikrobiologie und Infektionskrankheiten. Die WHO zum Beispiel habe sich von der Sorge leiten lassen, dass Grenzschliessungen die fragilen Wirtschaften armer Länder besonders schwer schädigen könnten und dass die Armut dadurch zunehme.
Die Abwägung, ob man Grenzen schliessen soll oder nicht, ist komplex und sie ändert sich im Verlauf der Pandemie, sagen alle Befragten. Feuerriegel etwa betont: «Dass unsere Ergebnisse sich nur auf den Zeitraum des März beziehen und sich nicht auf jetzt oder auf die Zukunft übertragen lassen, weil jetzt eine ganz andere Phase des Ausbruchs ist.»
Trotz Mobilität verbreitet sich das Virus langsamer
Nun ist das Virus in ganz Europa präsent und die Menschen hätten den Umgang damit gelernt, sie hielten die Hygieneregeln ein, sagt Kuhl. Dadurch spielten Mobilitätseinschränkungen keine so grosse Rolle mehr. Das zeige sich daran, dass in Deutschland die Mobilität zwar fast wieder so gross sei wie vor Corona, dass sich das Virus aber trotzdem viel langsamer verbreite.
Darum seien Grenzöffnungen zwischen Ländern wie Deutschland, Österreich und der Schweiz jetzt machbar: «Diese Länder haben ein relativ gleich niedriges Niveau. Und so ist es kein grosses Problem, die Grenze aufzumachen, weil man ja nicht zwei so unterschiedliche Länder gegeneinander vergleicht.»
Petersen, der Vorsitzende der europäischen Infektiologenvereinigung, stimmt zu. Er warnt aber, dass der Reiseverkehr mit Ländern wie Grossbritannien, den USA oder Russland, in denen die Situation noch nicht unter Kontrolle sei, weiter eingeschränkt bleiben solle.