Das ist das Problem: Was wäre, wenn der im August 2023 entgleiste Güterzug im Gotthard-Tunnel ein Personenzug gewesen wäre? Dutzende, vielleicht Hunderte, Schwerverletzte hätten geborgen, transportiert und behandelt werden müssen. In der Schweiz gibt es zwölf Kliniken mit Traumazentren mit je zwei Schockräumen, die rund um die Uhr einsatzbereit sind. Das bedeutet: Nur 24 Schwerverletzte könnten schweizweit gleichzeitig behandelt werden. Dann wäre vorerst mal Schluss. Die Spitäler könnten mehr Ärztinnen und Pfleger aufbieten, Operationsräume frei machen. Vielleicht wären so 50 Schwerverletzte gleichzeitig schweizweit behandelbar.
Legende:
Das Rettungswesen in der Schweiz ist nicht auf ein grösseres Ereignis vorbereitet. Nur zwischen 24 und 50 Schwerletzte könnten behandelt werden.
Keystone / JEAN-CHRISTOPHE BOTT
Das sagen die Experten: Unter Notfall-Medizinern sind die fehlenden Kapazitäten und Ressourcen ein offenes Geheimnis. Mathias Zürcher ist leitender Arzt am Schweizerischen Zentrum für Rettungs-, Notfall- und Katastrophenmedizin in Basel. Er sagt, bereits heute gebe es im Alltag immer wieder Schwierigkeiten, erkrankte oder verletzte Menschen in die geeigneten Zielkliniken hospitalisieren zu können. «Bei einem Ereignis mit 25 bis 50 Schwerverletzten stossen wir sehr bald an die Leistungsgrenzen.» Der Chirurg Tenzim Lamdark leitet seit zwei Jahren den Koordinierten Sanitätsdienst KSD. Er sagt, das Gesundheitswesen sei nicht auf Ausnahmesituationen ausgelegt. Vorhalteleistungen wie Ausbildung in der Katastrophenmedizin, Übungen oder die Bewältigung seien nicht finanziert.
In der Not kann die Armee nicht helfen
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Im Schwarzen Buch von Armeechef Thomas Süssli zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit steht: «Mit ihrem militär- und katastrophenmedizinischen Know-how erhöht die Armee die Resilienz des zivilen Gesundheitswesens, mit dem sie sowohl in der Ausbildung als auch in Einsätzen eng zusammenarbeitet.»
Fachleute widersprechen. Sie verweisen auf die Armeebotschaft 2024, wo der Bundesrat deklarierte: «Die Versorgung der Truppe kann heute nur minimal gewährleistet werden, da grosse Lücken beim Material und Personal bestehen.» Und: «Bei der sanitätsdienstlichen Versorgung ist die Armee deshalb stark auf die Leistungen des zivilen Gesundheits- und Veterinärwesens angewiesen, also von zivilen Rettungsdiensten, Spitälern oder Arztpraxen.»
Gemäss dem Fähigkeitsprofil 2035 in der Armeebotschaft sollen die Fähigkeiten im Bereich Sanität gleich bleiben wie heute.
In einem Krisenfall kann die Armee also nur minimal subsidiär unterstützen. Die Armee ist gar im Fall eines bewaffneten Konfliktes vom zivilen Gesundheitssystem abhängig, das neben zivilen Verletzten auch Soldatinnen und Soldaten versorgen müsste.
Bund soll krisenfest werden: Der Bund soll beauftragt werden, zusammen mit den Kantonen das Gesundheitswesen für den Krisen-, Katastrophen- und Kriegsfall robuster und widerstandsfähiger zu gestalten. Die Voraussetzungen und die Finanzierung dafür sollen geklärt werden. Die Motion angestossen hat die Solothurner SP-Ständerätin Franziska Roth, sie wurde als Motion der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats eingereicht. Der Ständerat hat im Plenum der Motion zugestimmt. Als nächster Schritt wird der Nationalrat die Motion behandeln.
Das antwortet der Bundesrat: Er lehnt die Motion ab, teilt aber das Anliegen. Er verweist auf die Arbeiten des Koordinierten Sanitätsdienstes im Bundesamt (KSD) für Bevölkerungsschutz. Seit knapp zwei Jahren leitet der Chirurg Tenzin Lamdark als Beauftragter den KSD. In einem Bericht, der sich zurzeit in der Konsultation befindet, analysiert er die Gesundheitsversorgung in Krisensituationen. Lamdark hat sieben Handlungsfelder definiert, zum Beispiel beim Personal, Logistik und beim strategischen Patiententransport. Der KSD soll neu zum Nationalen Verbund Katamed (Katastrophen-Medizin) werden. Ein nationaler Aktionsplan soll über fünf Jahre Verbesserungen in der medizinischen Versorgung im Falle eines grösseren Ereignisses sorgen.
Das Geld für Ausbildungen fehlt
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Der Koordinierte Sanitätsdienst KSD hat seine Geschichte im Kalten Krieg, als Teil der sogenannten Gesamtverteidigung. Er entstand in einer Zeit, als die Schweiz davon ausging, einen möglichen Atomkrieg überleben zu können – mit den richtigen Vorbereitungen. Darum war der KSD über Jahrzehnte Teil der Armee. Seit zwei Jahren ist der KSD im Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS angesiedelt.
Beim Transfer von der Armee in den zivilen Teil des VBS ging das Budget für Ausbildung vergessen – ob bewusst oder unbewusst, ist unklar. Das mehrere Millionen Franken starke Budget für Aus- und Weiterbildung von Ärztinnen, Pflegepersonal und Sanitätern ist bei der Armee verblieben, im Kompetenzzentrum für Militär- und Katastrophenmedizin. Ganz konkret spürt dies Medizin-Professor Mathias Zürcher, der das Schweizerische Zentrum für Rettungs-, Notfall- und Katastrophenmedizin in Basel leitet: «Wir mussten unser Angebot auf das Wesentliche reduzieren.»
Die Basis-Finanzierung sei bei der Gründung des Zentrums 2016 gesichert gewesen – durch das Ausbildungsbudget des KSD. In den meisten angebotenen Weiter- und Fortbildungen stünden auch Kontingente an Plätzen für angehende Sanitätsoffiziere der Schweizer Armee zur Verfügung, sagt Zürcher. Seit dem Transfer des KSD ins Bundesamt für Bevölkerungsschutz sei die Finanzierung für solche Kurse nicht mehr gesichert.
«Wir hätten grossen Bedarf im Fortbildungsbereich und im Trainingsbereich,» sagt Zürcher. Übungen im grösseren Verbund seien wichtig. Und dafür fehlten jetzt die Mittel.
Sicherheitspolitik umfassend denken: Die Schweiz leistet sich eines der teuersten und besten Gesundheitssysteme – kann aber Erste Hilfe nicht oder nur beschränkt leisten. Angesichts der angespannten sicherheitspolitischen Bedrohung – Krieg in Europa, Terror – und Umwelt- und Naturkatastrophen sei dies ein Sicherheitsrisiko, sagt Mathias Zürcher vom Schweizerischen Zentrum für Rettungs-, Notfall- und Katastrophenmedizin. Die Notfallversorgung der Bevölkerung und der Armeeangehörigen müssten strategisch geplant und Teil der Sicherheitspolitik der Schweiz werden, sagt Zürcher.
Legende:
Glück im Unglück – wäre im August 2023 nicht ein Güterzug, sondern ein Personenzug verunglückt, hätte es womöglich Hunderte Verletzte und Tote gegeben. Das Schweizer Rettungswesen ist auf ein solches Szenario nur ungenügend vorbereitet.
Keystone / URS FLUEELER
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