Im Zentrum für Suchtmedizin «Arud» mitten in der Zürcher Innenstadt ging im Februar 2020 die Angst um. Hier, wo Süchtige unter ärztlicher Aufsicht Heroin und andere Opioide beziehen können, rechnete man mit dem Schlimmsten: «Wir befürchteten, dass viele unserer Leute eine Corona-Infektion nicht überleben würden. Viele haben nach jahrzehntelangen Drogenkarrieren schwere Lungen-, Herz- und Lebererkrankungen und gehören zu den am meisten gefährdeten Risikogruppen», sagt Philip Bruggmann, Chefarzt Innere Medizin im «Arud».
Grosses Staunen unter Fachleuten
Was Bruggmann nun, zwei Jahre später, in Form einer Studie vorlegt, versetzt die Fachwelt jedoch in Staunen. Die Studie ist Teil der schweizweiten «Corona Immunitas»-Studie und zeigt am Beispiel des Zentrums «Arud», wie sich die Pandemie auf Menschen in Heroin- oder anderen Ersatzprogrammen auswirkt. Das Ergebnis: Statt schwere oder tödliche Verläufe hatten die rund 1000 Betroffenen durchs Band auffallend milde Corona-Erkrankungen. «Wir hatten keinen einzigen schweren Verlauf und niemand ist an Corona gestorben. Das ist ein Glück und eine riesige Überraschung», so Bruggmann.
Und dies, obschon die Patientinnen und Patienten überdurchschnittlich oft mit dem Virus in Kontakt gekommen sind. So zeigt die Studie, dass nach der ersten Corona-Welle im Frühling 2020 bereits rund 10 Prozent der Opioid-Bezüger Antikörper im Blut hatten – rund dreimal mehr als der Rest der Bevölkerung, als zu jenem Zeitpunkt erst 3,5 Prozent der Menschen Antikörper gebildet hatten.
Rätseln über mögliche Erklärungen
Dass gerade diese gesundheitlich oft angeschlagenen Personen so gut durch die Pandemie kamen, erstaunt auch den Infektiologen Jan Fehr, der als Leiter der «Corona Immunitas»-Studie die Gesamtsituation in der Schweiz überblickt. Eine abschliessende Erklärung gebe es noch nicht, sagt er, aber Hypothesen. Eine ist, dass gerade Menschen mit einer Drogenkarriere aufgrund ihres Lebenswandels schon mit vielen Viren in Kontakt gekommen seien, auch mit Erregern, die ebenfalls zur Familie der Corona-Viren gehörten. Ihr Immunsystem sei deshalb möglicherweise besser auf dieses spezifische Virus vorbereitet gewesen, so Fehr.
Ebenso belege die Studie wohl, wie gut es sei, dass in der Schweiz Drogensüchtige in einem Opioid-Programm medizinisch gut versorgt würden. Je besser man die Vorerkrankungen im Griff habe, desto weniger würden sie das Immunsystem belasten.
Zürich ist kein Einzelfall
Welche Faktoren genau zur grossen Corona-Überraschung geführt haben, müsste aber in weiteren Studien geklärt werden. «Es brennt uns unter den Nägeln, dem weiter auf den Grund zu gehen. Leider fehlt uns aktuell dafür die Finanzierung», sagt Fehr.
Klar ist aber schon jetzt, dass die Zürcher Studien-Überraschung kein Einzelfall ist. Laut Mediziner Philip Bruggmann machen Drogenabgabestellen in ganz Europa momentan die gleichen – positiven – Erfahrungen.