Das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die Schweiz von dieser Woche hat harsche Reaktionen ausgelöst. Die Schweiz tue zu wenig, um die selbst gesteckten Klima-Ziele zu erreichen, so das Urteil. Allerdings hat das Schweizer Stimmvolk an der Urne 2021 ein griffiges CO₂-Gesetz abgelehnt. Darin wären unter anderem höhere Benzinpreise und eine Flugticket-Abgabe vorgesehen gewesen. Welchen Spielraum hat die Schweizer Politik also, das Urteil umzusetzen?
Neues CO₂-Gesetz: Das Parlament hat vor Kurzem das CO₂-Gesetz erneut revidiert. Es sieht Anreize für mehr Klimaschutz vor, Kritiker bezeichnen das Gesetz aber als ambitionslos. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält fest, dass die bislang von der Schweiz getroffenen Massnahmen nicht ausreichen, um die eigenen Ziele zu erfüllen. Das anerkennen auch bürgerliche Politiker im Parlament. Man habe sich auf das konzentriert, was an der Urne mehrheitsfähig sei, so die Begründung.
Höherer Benzinpreise und Flugticketabgaben: Grundsätzlich sind weitgehende Eingriffe für mehr Klimaschutz, etwa eine Neuauflage von Lenkungsabgaben, denkbar. Das könnten zum Beispiel zusätzliche Abgaben auf Treibstoffe oder Flugtickets sein. Die Einnahmen würden an die Bevölkerung zurück verteilt, sodass klimaschonendes Verhalten belohnt wird. Lenkungsabgaben gelten als volkswirtschaftlich effizient. Kritiker, etwa aus der SVP, erklären, das Stimmvolk habe das 2021 schon einmal abgelehnt. Klimaschutz-Aktivistinnen hoffen, dass die Massnahmen inzwischen mehrheitsfähig sind. Weil auch einige bürgerliche Lenkungsabgaben zumindest nochmal prüfen wollen, dürfte die Debatte früher oder später nochmal kommen.
Kohlenstoff-Budget und Klimaverträglichkeitsprüfung: Vorgeprescht sind nach dem Urteil aus Strassburg die Grünen. Sie verlangen, dass die Schweiz künftig ein Kohlenstoffbudget führt, aus dem hervorgeht, wie viel Treibhausgase sie zur Einhaltung des Pariser Klimaabkommens noch ausstossen darf. Zudem sollen alle Gesetze und Projekte des Bundes auf ihre Klimaverträglichkeit hin überprüft werden. Diese Vorschläge dürften es im bürgerlich geprägten Parlament schwer haben, auch weil sich das Parlament in künftigen Entscheiden selber beschneiden würde.
Regeln für den Finanzplatz: Der Finanzplatz ist potenziell einer der grössten Hebel der Schweiz im Kampf gegen den Klimawandel. Eine Studie des Unternehmensberaters McKinsey zufolge könnte die Schweiz über die hier ansässigen Unternehmen und die Importe bis zum 10-fachen der Inland-Emissionen regulieren. Das Parlament setzt bislang auf Selbstregulierung der Branche. Der Bundesrat hätte aber auf Grundlage des vom Volk genehmigten Klimaschutzgesetzes die Möglichkeit, Vorgaben auf Verordnungsstufe zu machen. Aufgrund der Mehrheiten im Bundesrat scheint das aktuell allerdings unwahrscheinlich.
Vorgaben für die Baubranche: Das Parlament hat ein Gesetz für die sogenannte Kreislaufwirtschaft verabschiedet. Auf dieser Grundlage könnte der Bundesrat etwa der Baubranche Vorgaben betreffend Klimaschutz machen, ebenfalls ohne weitere Abstimmungen im Parlament. Die Branche zeichnet aktuell verantwortlich für gegen einen Fünftel des Treibhausgas-Ausstosses der Schweiz. Auch in anderen Bereichen hat der Bundesrat über Verordnungsanpassungen einen gewissen Spielraum.