Anfang Mai hat der Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg die Schweiz verurteilt. Sie verletze die Menschenrechtskonvention. Der Staat müsse Einzelpersonen vor den Auswirkungen des Klimawandels auf Gesundheit und Lebensqualität schützen. Die Rechtskommission des Ständerats verlangt, dass dieses Urteil ignoriert werde. Der Gerichtshof für Menschenrechte habe seine Kompetenzen überschritten. Verfassungsrechtsexpertin Maya Hertig sieht das anders.
SRF News: Hat der Gerichtshof für Menschenrechte seine Kompetenzen überschritten?
Maya Hertig: Ich würde das so nicht unterschreiben. Es gibt immer ein Spannungsverhältnis einerseits zwischen der Subsidiarität oder dem internationalen Menschenrechtsschutz und andererseits der Wirksamkeit der Menschenrechte. Die Menschenrechte sind ziemlich offen formuliert und müssen sich neuen Gefahren anpassen können. Sie müssen relevant bleiben, wenn sich der Kontext ändert. Das ist zum Beispiel mit der Klimapolitik der Fall.
Man schützt das Klima nicht wegen des Klimas, sondern weil gravierende Konsequenzen auf die Menschenrechte festzustellen sind.
Ihrer Ansicht nach strapaziert der Gerichtshof für Menschenrechte sein Mandat nicht?
Ich glaube, man muss das etwas korrigieren. Es gibt nicht ein Menschenrecht auf Klimaschutz. Der Ansatz geht immer vom Individuum aus und sagt, dass die Klimaerwärmung und die Umweltverschmutzung einen Einfluss auf das Recht auf Leben, auf die Gesundheit, auf das Wohlbefinden haben kann. Man schützt das Klima nicht wegen des Klimas, sondern weil gravierende Konsequenzen auf die Menschenrechte festzustellen sind.
Bereits vor Jahren wurde der Gerichtshof in einem Zusatzprotokoll zur Menschenrechtskonvention zurückgebunden. Wird das jetzt ignoriert?
Ich glaube nicht. Wenn man das Urteil liest, dann sagt der Gerichtshof klar, dass das Urteil sowohl politische als auch rechtliche Aspekte hat. Der Gerichtshof muss den Staaten auch genügend Ermessensspielraum einräumen. Man trägt dem Umstand Rechnung, dass Europa sehr divers ist. Aber gleichzeitig haben die Staaten auch Verpflichtungen. Sie haben die primäre Verantwortung, die Rechte der EMRK zu schützen.
Es gibt häufig Urteile, die im Moment viel Unbehagen und Kritik hervorrufen und die aber später als grosse Urteile zelebriert werden.
Schadet sich der Gerichtshof nicht selber, wenn er seine Zuständigkeit zu breit definiert und sich einzelne Staaten dann abwenden?
Jedes Gericht ist auf Akzeptanz angewiesen, das ist klar. Nicht immer einfach zu unterscheiden sind die kurzfristige und die langfristige Perspektive. Es gibt häufig Urteile, die im Moment viel Unbehagen und Kritik hervorrufen und die aber später als grosse Urteile zelebriert werden. Perspektiven können sich verändern und ich glaube, wir müssen etwas abwarten und schauen, wie sich dieses Urteil auswirkt.
Die Kritik am Gerichtshof für Menschenrechte ist das eine. Das andere ist die Aufforderung, ein Urteil zu ignorieren, das einem nicht passt, wie das jetzt die Justizkommission des Ständerats will. Wie beurteilen Sie das?
Da bin ich sehr skeptisch. Ich finde, gerade ein Staat wie die Schweiz, der einen guten Menschenrechtsstandard hat und als Demokratie anerkannt ist, sollte nicht solche Signale aussenden. Ich finde es aus der Perspektive der Rechtsstaatlichkeit bedenklich. Die EMRK ist ein gesamteuropäisches Projekt. Es geht darum, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf dem europäischen Kontinent zu sichern. Und die Urteile sind verbindlich.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.