Muss die Schweiz ihre Seniorinnen besser vor dem Klimawandel schützen? Diese Frage muss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) beantworten. Er befasst sich mit einer Klage der Schweizer Klimaseniorinnen, einem Verein aus über 2000 Rentnerinnen, die gegen die Schweiz klagen. Sie sagen, der Staat schütze ihr Menschenrecht auf Leben nicht genügend.
Die rechtlichen Fäden dieser Klimaklage zieht die Schweizer Anwältin Cordelia Bähr. Seit sieben Jahren arbeitet sie an dem Fall. «Nein, ich bin nicht von Haus aus eine Aktivistin», sagt die 41-Jährige. Sich fürs Klima auf die Strasse zu kleben, das würde sie nicht tun. «Das ist nicht meine Rolle. Meine Rolle ist, als Anwältin die betroffenen, verletzlichen Personengruppen zu vertreten.» Dennoch wolle – ja müsse – sie etwas tun.
Ich kann nicht einfach die Ohren und Augen verschliessen und das ignorieren und weiterleben wie vorher.
Mit 20 begann sie sich für Klima und Umweltprobleme zu interessieren. Und dabei sei ihr die riesige Diskrepanz aufgefallen, sagt Cordelia Bähr: Die grosse Kluft zwischen dem, was aus ihrer Sicht getan werden müsste, und dem, was effektiv getan werde. «Das hat mich immer angetrieben.» Wenn sie ein Problem sehe, dann mache sie etwas dagegen. «Ich kann nicht einfach die Ohren und Augen verschliessen und das ignorieren und weiterleben wie vorher.»
Zuerst hat sie im Auftrag von Greenpeace ein Gutachten geschrieben, ob man die Schweiz mithilfe von Gerichten irgendwie zu mehr Klimaschutz zwingen könnte. Darauf folgte eine offizielle Aufforderung im Namen der Klimaseniorinnen an den Bundesrat, er müsse mehr für den Klimaschutz tun und das Leben von Seniorinnen besser schützen, denn ältere Frauen würden unter Hitzewellen besonders leiden.
Das Kämpferische verbindet uns, ja.
Manche der Seniorinnen, die sie vertritt, sind doppelt so alt wie Cordelia Bähr, haben in der 68er-Bewegung politisiert und sind seit Jahren als Aktivistinnen unterwegs. Trotz dieser Gegensätze: Die Sache verbinde sie. «Ich habe selten so engagierte Frauen erlebt, die wirklich mit Herzblut für ihr Recht kämpfen», sagt die Klimaanwältin. Und: «Das Kämpferische verbindet uns, ja.»
Es ist eine Rechtsfrage, ob die Menschenrechte verletzt sind oder nicht.
Aber sind Gerichte überhaupt der richtige Ort, um für Klimaschutz zu kämpfen? «Es ist eine Rechtsfrage, ob die Menschenrechte verletzt sind oder nicht, und keine politische Frage», sagt Cordelia Bähr. «Aber natürlich: Für Klimaschutz braucht es auch den politischen Weg. Es braucht alle Wege.»
In den ersten derartigen Klimaprozess setzt Cordelia Bähr darum grosse Hoffnungen. «Der beste Fall wäre, wenn der Europäische Menschenrechtsgerichtshof der Schweiz Leitlinien dazu geben würde, was sie tun müsste, um ihren Anteil daran zu leisten, dass die Erderwärmung 1.5 Grad nicht übersteigt.»
Grosse Auswirkungen auf die ganze Welt – so oder so
Ihr Fall werde aber nicht nur auf die Schweiz grosse Auswirkungen haben, ist sich Cordelia Bähr sicher, sondern auf die ganze Welt. Und zwar egal, wie das Gericht entscheide. «Wenn der Gerichtshof sagt, dass die Schweiz mit ihrer Klimapolitik die Menschenrechte der Seniorinnen verletzt, dann hätte das weitreichende Folgen in der Schweiz, europaweit und weltweit.» Und andererseits, also wenn der EGMR die Menschenrechte nicht verletzt sähe, wäre das quasi eine Legitimation für wenig Klimaschutz.
Die Chancen, dass der Menschenrechtsgerichtshof Vorgaben zum Klimaschutz machen wird, stehen aber nicht schlecht. Nur ein kleiner Teil der Klagen wird vom EGMR überhaupt behandelt. Und dass der Gerichtshof die Klimaklage gegen die Schweiz sogar als besonders wichtig und dringend eingestuft hat, lässt die Klimaseniorinnen und Cordelia Bähr hoffen.