- Schock Nummer 1: Eine Gewalttat reisst einen geliebten Menschen aus dem Leben. Oder: Man erlebt selber eine schwere, traumatische Gewalttat.
- Schock Nummer 2: Für das erlittene Unrecht wird man als Betroffener oder Angehörige finanziell bei weitem nicht so entschädigt, wie die Justiz das eigentlich vorschreiben würde.
- Warum das so ist: Die Schweizer Politik knausert seit Jahren immer mehr bei der Opferhilfe, wie aus der offiziellen Statistik hervorgeht.
- Der Gerichtsprozess zu einem grausamen Mord warf erst kürzlich ein Schlaglicht auf das doppelte Leid von Gewaltopfern im Zusammenhang mit der knausrigen Opferhilfe.
Was ein Gericht entscheidet, das gilt – allerdings nicht immer. Bei Genugtuungen für Opfer von Gewaltverbrechen werden Gerichtsurteile immer wieder zu Makulatur. Wenn nämlich ein Gericht einem Opfer oder dessen Angehörigen eine Genugtuung zuspricht, eine finanzielle Entschädigung für das erlittene Unrecht, dann ist es keineswegs sicher, dass diese Summe auch ausgezahlt wird.
Für Betroffene ist das nach dem eigentlichen Verbrechen häufig ein zweiter Schock, sagen Fachleute und kritisieren die knausrige Haltung der Politik, insbesondere der Kantone.
Kantone wollten bewusst sparen bei der Opferhilfe
Kann ein Täter oder eine Täterin nicht für die Genugtuung des Opfers aufkommen, dann springt der Staat ein. Die kantonale Opferhilfe übernimmt die Genugtuung, allerdings nicht zwingend in vollem Umfang. Seit der Totalrevision des Schweizer Opferhilfegesetzes vor über zehn Jahren gilt eine Obergrenze für Genugtuungen, es gibt maximal 70'000 Franken für Opfer und maximal 35'000 Franken für Angehörige.
Die Obergrenze für die Genugtuung war ein politischer Entscheid, der auf Schadensausgleich keine Rücksicht genommen hat.
Bis ins Jahr 2009 erhielten Opfer noch die gesamte Genugtuung, die ein Gericht gesprochen hat. Die Finanzierung sei den Kantonen aber zu viel geworden, sagt Peter Gomm, Experte für Opferhilferecht. Die Kantone hätten bei der Revision auf eine Obergrenze für Genugtuungen gedrängt: «Es war ein politischer Entscheid und nicht unbedingt ein Entscheid, der auf Schadensausgleich oder die Rolle der Gerichte Rücksicht genommen hat.».
Auch in der juristischen Praxis ist die Begrenzung der Opferhilfe immer wieder ein Thema. Rechtsanwalt Patrick Bürgi zum Beispiel findet die Obergrenze sehr problematisch. Bürgi hat im Mordfall Bruggerberg die Eltern des Opfers vertreten, die von der gerichtlich gesprochenen Genugtuung nicht einmal die Hälfte erhalten (siehe Kasten).
Nebst dem grossen seelischen Leid kommt noch eine finanzielle Enttäuschung dazu.
Anwalt Bürgi erlebt hautnah, wie die Höhe der Genugtuung auf die Opfer wirkt: «Aus Opfersicht ist es sehr unangenehm, wenn die gerichtlich zugesprochene Genugtuung nicht verfügbar gemacht werden kann. Nebst dem grossen seelischen Leid kommt dann noch eine finanzielle Enttäuschung dazu.» Hier müsste der Staat doch in die Bresche springen, findet der Anwalt.
Der Staat allerdings zeigt wenig Interesse, etwas zu ändern. Und so akzentuiert sich die knausrige Haltung bei der Opferhilfe jährlich weiter. Gemäss der offiziellen Statistik gibt es zwar jedes Jahr ungefähr gleich viele Fälle, wo die kantonalen Opferhilfen eine Genugtuung zahlen, allerdings fliesst dabei immer weniger Geld.
Opferhilfeexperte Peter Gomm und Anwalt Patrick Bürgi würden es begrüssen, wenn diese Knausrigkeit ein Ende hätte und Opfer von Gewalt wieder in jedem Fall erhalten, was die Gerichte ihnen eigentlich zusprechen, so wie es bis 2009 war. Politisch jedoch scheint diese Forderung aktuell chancenlos zu sein.
bras;vogb