In der Kolonialzeit ist Subsahara-Afrika eines Grossteils seiner Kulturschätze beraubt worden. Über 90 Prozent des afrikanischen Kulturerbes lagert, so schätzen Experten, ausserhalb des Kontinents. Manche Völker, wie etwa die Pokomo in Kenia, verlangen jetzt ihre Heiligtümer zurück.
Auch in Schweizer Museen und Sammlungen finden sich Objekte fragwürdiger Herkunft. Welchen Stand das heikle Thema hierzulande hat, weiss der Kunstrecht-Experte Florian Schmidt-Gabain.
SRF News: Können Sie Forderungen wie die der Pokomo, die eine heilige Trommel zurückhaben wollen, verstehen?
Florian Schmidt-Gabain: In den Subsahara-Staaten sind nur wenige Kulturgüter übriggeblieben. Vor allem die Highlights, die der nationalen Identifikation dienen könnten, befinden sich in europäischen Museen und Privatsammlungen. Deshalb kann ich verstehen, dass ein Bedürfnis nach Rückgabe besteht.
Die Schweiz war nie Kolonialmacht. Wie viele solcher Objekte gibt es hier überhaupt?
Es sind mir keine Schätzungen bekannt. Es gibt kaum verlässliche Angaben, gerade bei Privatsammlungen, aber auch bei Museen, weil die Inventare nicht komplett sind. Ich bin mir aber sicher, dass es Zehn- oder sogar Hunderttausende Objekte sind. Wenn man sich etwa das Museum Rietberg, das Haus der Kulturen in Basel oder die Völkerkundemuseen in Zürich, St. Gallen, Genf und anderswo anschaut, kommt man auf eine hohe Zahl.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron versprach die Rückgabe afrikanischer Artefakte an die ehemaligen Kolonien. Welche Stellung bezieht die Schweizer Regierung zu diesem Thema?
Die Schweizer Regierung hat dazu keine offizielle Meinung. Auf parlamentarische Anfragen zum Umgang mit kolonialer Kunst gab der Bundesrat eher ausweichende Stellungnahmen ab, er wolle gerne vermittelnd tätig sein. Da sich meiner Kenntnis nach keine oder nur wenig Kolonialkunst in Bundesbesitz befindet, überrascht mich die zurückhaltende Position wenig.
Gibt es eine gemeinsame nationale Strategie, wie mit Kolonialkunst dubioser Herkunft umzugehen ist?
Nein, die gibt es nicht. Allerdings fördert das Bundesamt für Kultur seit 2016 die Provenienzforschung, die sich mit der Herkunftsgeschichte von Kunstwerken beschäftigt. Museen können dafür Finanzmittel beantragen. Dieser Schwerpunkt wurde im Zuge der Affäre um die Gurlitt-Sammlung lanciert, von der man anfangs befürchtete, sie könnte einiges an Raubkunst enthalten. Die Fördermittel sind nicht auf Werke aus dem Zweiten Weltkrieg beschränkt, sondern dienen auch der Erforschung kolonialer Objekte.
Die Schweiz ist auf einem guten Weg.
Für 2016 bis 2020 hat der Bund mehr als zwei Millionen Franken für verschiedene Projekte bewilligt. Sind diese Fördermittel ausreichend?
Sie sind kein Tropfen auf den heissen Stein, aber Provenienzforschung ist sehr zeit- und kostenintensiv. Wenn man das flächendeckend betreiben will, braucht es mehr Mittel. Die Schweiz ist da aber auf einem guten Weg. Und auch bei privaten Stiftungen stösst man auf offenere Ohren als früher.
Gibt es Vorreiter im Umgang mit Kolonialkunst?
Das Museum Rietberg ist hier in einer prominenten Rolle. Es hat als erstes Schweizer Museum eine Stelle für Provenienzforschung geschaffen und seine Sammlung sehr gut aufgearbeitet. Zuerst ging es um Objekte, die während der Nazi-Zeit erworben wurden. Nun arbeitet man auch die koloniale Geschichte der Objekte auf. Generell findet die Aufarbeitung in Sachen Nazi-Raubkunst bereits an zahlreichen Orten statt, bei Kolonialkunst gibt es aber noch Nachholbedarf.
Wurden bereits koloniale Objekte zurückgegeben?
Es gibt immer wieder Fälle in der Schweiz, in denen man Nazi-Raubkunst aus Museen zurückgegeben oder andere Lösungen gefunden hat. Aber in Bezug auf koloniale Kunstwerke ist es nach meiner Kenntnis bislang zu keinen Verhandlungen oder gar Rückgaben gekommen. Das Völkerkundemuseum in St. Gallen etwa besitzt zwei Benin-Bronzen und hat sich öffentlich zur Gesprächsbereitschaft darüber bekannt. Davon, dass auf das Gesprächsangebot eingegangen worden wäre, ist mir bis jetzt nichts bekannt.
Es ist nicht die vorderste Pflicht der Museen, proaktiv auf die heutigen Herkunftsstaaten zuzugehen.
Gibt es hier Nachholbedarf?
Es ist nicht die vorderste Pflicht der Museen, proaktiv auf die heutigen Herkunftsstaaten zuzugehen, die einen Anspruch auf Rückgabe haben könnten. Es geht vielmehr um eine Aufarbeitung auf allgemeiner Ebene: In welchem Umfang gibt es überhaupt koloniale Kunst in der Schweiz, wie ist sie hierher gekommen, wie sind Restitutionsforderungen rechtlich zu beurteilen, wie gehört der moralische Kompass ausgerichtet? In diesen Bereichen ist noch viel unklar. Sinnvolle Rückgabe-Diskussionen benötigen solide Grundlagenforschung. Als Startschuss könnte man eine Konferenz organisieren. Dabei erscheint mir wichtig, auch die Herkunftsländer einzubeziehen, die Grundlagenforschung also dialogisch auszurichten.
Für den Umgang mit Nazi-Raubkunst gibt es die Washingtoner Prinzipien. Wäre Ähnliches für koloniale Kulturgüter denkbar?
Ja, durchaus. Die Idee wäre ein staatenübergreifendes Dokument, das aufzeigt, unter welchen Umständen man Lösungen für die Rückgabe dieser Objekte suchen soll. Die Washingtoner Prinzipien fordern «faire und gerechte» Lösungen für Nazi-Raubkunst, die sich nicht nur an der rechtlichen Situation orientieren. Ein solches Bekenntnis auf Staatenebene für koloniale Kunst könnte ein wichtiger Schritt sein, um den Dialog mit den Herkunftsländern mit Leben zu erfüllen.
Welches wären mögliche Lösungen?
Da gibt es viele: Die volle Restitution, Miteigentum oder Leihgaben. In manchen Fällen kommt vielleicht sogar ein Verkauf infrage, bei dem man den Erlös aufteilt. Oder man anerkennt das Eigentum, aber belässt das Objekt dort, wo es ist. Eine weitere Möglichkeit wäre, das Herkunftsland bei der Erforschung seiner Kultur zu unterstützen, etwa indem man einen Lehrstuhl an einer Hochschule finanziert. Das Museum Rietberg zum Beispiel unterstützt Forschungsprojekte in Afrika. Das wichtigste ist, dass man keine allgemeinen Lösungen fordert, sondern stets Lösungen im Einzelfall findet.
Das Gespräch führte Mareike Rehberg.