Das Wichtigste in Kürze
- Im Jahr 2017 hiessen sogenannte Zwangsmassnahmengerichte 97 Prozent aller Anträge von Staatsanwälten auf Haft und geheime Überwachungen gut. Das zeigt erstmals eine Recherche von SRF.
- Fast in allen Kantonen werden diese Entscheide geheim gehalten. Ein Rechtsprofessor hält dies für verfassungswidrig.
- Bundespolitiker wollen die Gerichte jetzt verpflichten, ihre Entscheide öffentlich zu machen.
Die Wohnung von Tanja Keller* und ihrem Lebenspartner wird verwanzt und ihr Telefon überwacht. Verdeckte Ermittler infiltrieren ein Jahr lang ihren Freundeskreis. Eine getarnte Polizistin wird zur besten Freundin der 24-jährigen Frau.
Tanja Keller und ihr Ex-Mann stehen im Verdacht, Ende Juli 2010 den gemeinsamen achtwöchigen Sohn umgebracht zu haben. In der ersten Einvernahme sagen sie aus, das Kind habe plötzlich zu atmen aufgehört. Sie können es sich nur durch plötzlichen Kindstod erklären. Danach verweigern sie die Aussage.
Im September 2017 stellt die Solothurner Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen die Frau ein. Sie erhält laut Urteil des Obergerichts Solothurn eine Genugtuung von 60'000 Franken wegen ungerechtfertigter Überwachungsmassnahmen. «Ich kann noch heute kaum Vertrauen zu Menschen fassen», sagt Tanja Keller. Ihre Welt fiel in sich zusammen, als sich ihre engsten Freunde als getarnte Polizisten entpuppten.
Der Fall wirft grundsätzliche Fragen auf. Denn die Recherche der Rundschau und SRF Data zeigt: Die Gerichte, welche die Strafverfolger kontrollieren sollten, sagen fast nie Stopp. Und sie lassen sich nicht in die Karten blicken.
Massive Eingriffe in die Privatsphäre
Strafverfolger können Beschuldigte in Haft nehmen, ihre Telefone abhören und Bankverbindungen überwachen. Sie dürfen auch Zimmer verwanzen, verdeckte Ermittler einsetzen und neu seit dem 1. März 2018 Spähprogramme in Computer einschleusen – sogenannte Trojaner.
Dazu braucht es einen dringenden Tatverdacht und weitere Voraussetzungen. Denn wer ins Gefängnis kommt, wird möglicherweise selbst zum Opfer – bevor überhaupt klar ist, ob er eine Straftat begangen hat. Und wer wie Tanja Keller plötzlich merkt, dass die besten Freunde getarnte Polizisten sind, trägt lebenslang psychischen Schaden davon. Deshalb müssen Richter – die so genannten Zwangsmassnahmenrichter – solche Massnahmen bewilligen.
Politiker preisen diese Gerichte als Garanten des Rechtsstaats. «Auch ich vertraue der Justiz», schrieb SP-Ständerat Claude Janiak in der NZZ während der Debatte um den Einsatz von Trojanern im Jahr 2014. «Sie wird dafür sorgen, dass die neuen Zwangsmassnahmen wie vom Gesetzgeber vorgegeben nur zurückhaltend zur Anwendung gelangen.»
Gerichte winken fast alle Anträge durch
Nun zeigt die SRF-Recherche erstmals: Im Jahr 2017 hiessen Zwangsmassnahmenrichter 97 Prozent aller Anträge von Strafverfolgern gut. 18 Kantone verfügen über entsprechende Statistiken – darunter Bern und Genf, wo die Gutheissungsquote über 98 Prozent beträgt.
Das schreckt Wissenschaft und Politik auf: «Die hohe Gutheissungsquote ist höchst erstaunlich», sagt Urs Saxer, Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich. «Da besteht ein ganz grosser Erklärungsbedarf.» Und Ständerat Janiak meint dazu: «Eine derart hohe Gutheissungsquote lässt aufhorchen.»
Doch beide betonen: Aufgrund der Quote alleine sei keine klare Aussage möglich. Entweder arbeiten die Strafverfolger äusserst gut und halten sich ans Gesetz. Oder aber die Richter winken die Anträge der Staatsanwälte mehr oder weniger unbesehen durch.
«Nein, das tun wir nicht», entgegnet Jürg Zinglé, Präsident des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Bern. «Wir prüfen bei jeder Massnahme, ob die gesetzlichen Vorgaben erfüllt sind und ob sie gerechtfertigt ist». Dass sein Gericht fast hundert Prozent aller Zwangsmassnahmen genehmigt, erklärt Zinglé damit, dass die Strafverfolger nur in klaren Fällen Antrag stellen. «Staatsanwälte sind zurückhaltend mit solchen Mitteln, weil sie viel Arbeit verursachen.»
Einseitiges Verfahren bei geheimer Überwachung
Auch Bundesrichter Niklaus Oberholzer meint, dass Staatsanwälte vor allem durch den Aufwand für die Anträge im Zaum gehalten werden. Aber die Rolle der Richter sieht er skeptisch: «Bei geheimen Zwangsmassnahmen ist die richterliche Kontrolle eher ein Feigenblatt, weil nicht beide Seiten angehört werden können.»
Oberholzer hat als ehemaliger Präsident der St. Galler Anklagekammer zehn Jahre lang selbst Anträge auf Telefonüberwachung geprüft. Seine Erfahrung: «Man kann gar nicht vertieft beurteilen, ob ein Antrag gerechtfertigt ist oder nicht, weil es schnell gehen muss und die Akten nur vom Staatsanwalt stammen.» Der Beschuldigte kann – anders als bei herkömmlichen Gerichtsverfahren – nichts dazu sagen.
So verkomme der Richter zum Notar, der die von den Strafverfolgern getroffenen Entscheide letztlich nur noch beurkunde. Deshalb schlägt Oberholzer vor, dass ein «Grundrechtsanwalt» vor den Zwangsmassnahmengerichten zu den Anträgen der Staatsanwälte Stellung nimmt. Dieser Anwalt würde sich stellvertretend für die Betroffenen für Grundrechte – wie etwa die persönliche Freiheit – einsetzen.
«Eine äusserst interessante Idee», findet auch der Berner Zwangsmassnahmenrichter Jürg Zinglé. «Das lässt sich in der Praxis auch umsetzen, und führt zu Mehrkosten, die vertretbar sind.»
Kontrollorgan als «Dunkelkammer der Justiz»
Wie gut oder schlecht arbeiten Zwangsmassnahmengerichte? Das kann niemand wirklich kontrollieren. Das Problem: Ihre Entscheide sind in fast allen Kantonen geheim. Man kann nicht nachlesen, mit welcher Begründung die Richter die Anträge jeweils gutheissen. Man kann nicht nachvollziehen, wie sie die konkreten Abwägungen treffen. Deshalb nennt Verfassungsrechtler Urs Saxer diese Gerichte «Dunkelkammern der Justiz».
Es sei nachvollziehbar, dass die Entscheide der Zwangsmassnahmengerichte geheim seien, solange die Ermittlungen und das Strafverfahren noch laufen. Aber wenn der Täter hinter Gittern sitzt und alle Fragen geklärt sind, spricht gemäss Saxer nichts gegen die Veröffentlichung. Im Gegenteil: «Die heutige Praxis der Zwangsmassnahmengerichte, ihre Urteile geheim zu halten, ist verfassungswidrig», kritisiert er.
«Die Bundesverfassung verlangt die Öffentlichkeit der Justiz und ihrer Urteile». Die Geheimniskrämerei dieser Gerichte führe dazu, dass heute weder die Öffentlichkeit noch die Betroffenen noch deren Rechtsvertreter die Praxis wirklich kennen. «Das schafft Rechtsunsicherheit.»
Politiker: «Es braucht mehr Transparenz.»
Darum wird jetzt auch das Parlament aktiv. «Bei Zwangsmassnahmengerichten braucht es mehr Transparenz», sagt SP-Ständerat Claude Janiak, der auch in der Rechtskommission der kleinen Kammer sitzt. «Nach Abschluss des Strafverfahrens müssen Entscheide von Zwangsmassnahmengerichten öffentlich sein».
Darauf will er bei der laufenden Revision der Strafprozessordnung hinwirken. Auch FDP-Ständerat Andrea Caroni oder SP-Nationalrat Martin Naef sehen Handlungsbedarf: «Zwangsmassnahmengerichte dürfen keine Dunkelkammern sein», meint Naef, der in der Rechtskommission des Nationalrats ebenfalls aktiv werden will. «Nur mit Transparenz können diese Gerichte Vertrauen schaffen. Dafür braucht es die Publikation der Entscheide.» Die Revision der Strafprozessordnung kommt im Frühling 2019 ins Parlament.
Vorreiter sind die Kantone Basel-Landschaft und Freiburg. Sie publizieren bereits heute Entscheide im Internet. «Damit wollen wir Waffengleichheit zwischen Staatsanwälten und Strafverteidigern herstellen», begründet Irène Läuchli, Gerichtspräsidentin im Kanton Basel-Landschaft, die Praxis. Teilweise veröffentlichen auch übergeordnete Gerichte wie Obergerichte, das Bundesstrafgericht oder das Bundesgericht ihre Urteile, wenn sie die Entscheide der Zwangsmassnahmengerichte überprüfen.
Nutzen und Schaden im Fall Tanja Keller
Die Staatsanwaltschaft Solothurn hat letzte Woche Anklage wegen mutmasslicher vorsätzlicher Tötung gegen den Ex-Mann von Tanja Keller erhoben. Er beteuert seine Unschuld. Seine Verteidigerin wird auf Freispruch plädieren.
Die Ermittler werden sich im Fall gegen den Vater wahrscheinlich auch auf Erkenntnisse aus der Überwachung der Mutter stützen. Zu den eingesetzten Methoden im Fall will sich die Staatsanwaltschaft mit Verweis auf das hängige Verfahren gegen den Vater aber nicht im Detail äussern. Sie verweist darauf, dass die Anordnung der Zwangsmassnahmen höchstrichterlich durch das Bundesgericht gestützt wurde.
Der Privatsphäre der überwachten Person werde sehr wohl Rechnung getragen, so die Staatsanwaltschaft Solothurn. Bei der Aufklärung von besonders schweren Delikten gelte es nicht nur die Interessen der Gesellschaft, sondern insbesondere die Interessen der Opfer zu wahren – besonders wenn es sich dabei um wehrlose Kinder handle.
Telefone überwachen, Wohnung verwanzen, den engsten Freundeskreis infiltrieren. Im Fall Tanja Keller sind die Strafverfolger sehr weit gegangen, die Zwangsmassnahmenrichter haben alles bewilligt.
Das hat gemäss Solothurner Obergericht zu einer «besonders schweren Verletzung ihrer persönlichen Verhältnisse» geführt. Deshalb sprachen sie Keller eine Genugtuung von 60’000 Franken zu, als die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen sie im September 2017 einstellte.
Die verdeckten Ermittler haben Keller gemäss Obergericht in «emotionale Gefangenschaft» genommen, «die eine weitaus längere Betroffenheit auszulösen vermochte als die 44-tägige Untersuchungshaft.»
Tanja Keller hat die Hoffnung nicht aufgegeben, vielleicht irgendwann einmal ein normales Leben mit ihrer Tochter und ihrem neuen Lebenspartner zu führen.
* Name der Redaktion bekannt.
Mitarbeit: Timo Grossenbacher.