Jahrzehntelang wurden im Kanton Thurgau Medikamente an Patientinnen und Patienten der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen getestet. Seit Anfang Jahr haben Betroffene Anspruch auf einen Solidaritätsbeitrag von 25'000 Franken pro Person. Finanziert wird das durch den Kanton Thurgau und teilweise durch den Pharmakonzern Novartis.
Es ging sofort los. Mindestens 16 Gesuche sind eingegangen und deren zwei bereits bewilligt. Ein Gesuch wurde bisher abgelehnt.
Die Gesuche für die Solidaritätsbeiträge gehen direkt ans Staatsarchiv des Kantons Thurgau. Dieses muss prüfen, ob jemand zwischen 1940 und 1980 in einer Thurgauer Klinik Testpräparate erhalten hat oder nicht. Die ersten Gesuche seien eingetroffen, sagte Staatsarchivar André Salathé Mitte Januar. Von den 16 Gesuchen seien deren zwei bereits bewilligt, eines abgelehnt worden.
Die Suche
Die Recherche startet im Keller in den langen neonhellen Gängen des Staatsarchivs. Links und rechts zweigen Regale ab. Per Knopfdruck fahren sie auseinander. Salathé zeigt die bedeutende Menge der Krankenakten von stationären Patientinnen und Patienten. Er geht von ungefähr 15'000 Krankengeschichten aus.
Es sind zum einen die Krankengeschichten von Patientinnen und Patienten aus dem Archiv der psychiatrischen Klinik Münsterlingen. Dazu kommen die Akten aus dem Nachlass des ehemaligen Klinikdirektors Roland Kuhn. Er hatte damals die Medikamententests durchgeführt. «Es sind zum Teil dünne Akten, aber auch dicke und unglaublich dicke von Menschen, die teils jahrzehntelang in der Klinik Münsterlingen waren», so Salathé.
Die Auswertung
Sobald die Akte gefunden ist, beginnt im Büro die Lese-Arbeit. Mitarbeiter Urban Stählin beugt sich konzentriert über einen Fall. Die Akte enthält eine chronologische Aufstellung aller Konsultationen bei den Ärzten und von allen Test, die mit diesem Menschen gemacht wurden: «In diesen Einträgen sind auch die verabreichten Substanzen genannt.»
Das ist die entscheidende Information. Hat eine Person damals nicht zugelassene Medikamente, also Test-Substanzen, erhalten oder nicht. Die Patientinnen und Patienten seien meist gar nicht informiert worden über die Medikamente, die ihnen verabreicht wurden.
War das Medikament auf dem Markt oder nicht?
Ein Gesuch für einen Solidaritätsbeitrag sei bisher abgelehnt worden, sagt Staatsarchivar Salathé: «Der betroffene Patient hatte zwar in Münsterlingen tatsächlich sehr viele Medikamente erhalten. Allerdings waren diese Medikamente zur Zeit der Verabreichung allesamt durch die Heilmittelzentrale in Bern bewilligt und somit offiziell auf dem Markt.»
Bei allen Entscheiden wendet das Staatsarchiv Thurgau das Vier-Augen-Prinzip an. Gesuche dürfen nur schriftlich eingereicht werden, um die Echtheit überprüfen zu können. «Wir halten aus diesbezüglich aber aus dem Geschehen heraus, bis wir selber den Entscheid getroffen haben, und wir keiner möglichen Einflussnahme unterworfen sind».
500 Gesuche erwartet
Laut Salathé gehen immer wieder Mails und Nachfragen ein, die dann zuerst einmal diplomatisch beantwortet werden müssten. Viele Betroffene hätten sich mit ihrer eigenen Vergangenheit befasst und würden Belege und Hinweise schon dem Gesuch beilegen.
Noch hat die Recherche erst begonnen. Die Frist läuft bis Ende 2028. Der Kanton Thurgau rechnet mit etwa 500 Gesuchen und einer Gesamtsumme von 12.5 Millionen Franken, die letztlich an die Opfer der illegalen Medikamententests von Münsterlingen ausbezahlt werden.