So sieht die Solidarität in der Schweiz derzeit aus: Ein Bus aus Krakau hält auf einem Parkplatz in Augst (BL). Gastfamilien stehen bereit, um die gut 70 Flüchtlinge im Bus in Empfang zu nehmen. So geschehen Mitte März. Es sind Bilder voller Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft.
Katja Meier leitet den Verein Terranea, der seit dem 1. März ukrainische Flüchtlinge aus Polen in die Schweiz holt. Der Bus hier ist der vierte, den Terranea organisiert hat.
Katja Meier erlebt die grosse Solidarität hautnah: «Jetzt ist es endlich einmal einfach, zu helfen. Wir können etwas tun und wir tun es. So erlebe ich auch die Gastfamilien.»
Wir können nicht verstehen, dass wir es nicht mit allen Kriegsgeschädigten gleich handhaben können.
Doch Katja Meier ist sich auch bewusst, dass Flüchtlinge aus anderen Kriegsgebieten nicht die gleichen Möglichkeiten haben: «Das macht uns sehr betroffen. Wir können nicht verstehen, dass wir es nicht mit allen Kriegsgeschädigten gleich handhaben können – mit Menschen aus Syrien etwa. Das ist stossend.»
Tatsächlich ist die Hilfe von Terranea nur möglich, weil die Ukrainerinnen und Ukrainer visumfrei einreisen können und in der Schweiz den Schutzstatus S erhalten. Das schafft Privilegien gegenüber Flüchtlingen, die hier lediglich den Status einer vorläufigen Aufnahme haben.
Diese Kritik kommt von etlichen Hilfswerken. Auch Anna Bähler ist irritiert. Sie ist Co-Präsidentin der Organisation Bern Integral und bietet Sprachkurse für Flüchtlinge an. Gegenüber SRF sagt sie: «Es gibt Flüchtlinge, die man hier lieber sieht, und solche, die man hier weniger gerne sieht.» Ihre Kritik geht an die Politik: Wer von einem aussereuropäischen Land komme, vielleicht schlechter gebildet sei, habe es schwerer. «Da gibt es eindeutig einen Unterschied.»
Geografische Nähe – und politischer Wille
Bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe spricht Direktorin Miriam Behrens von einer Rechtsungleichheit, die herrsche. Andere Flüchtlinge würden das hautnah erfahren, zum Beispiel, wenn sich ihr eigenes Asylverfahren wegen der ukrainischen Flüchtlinge verzögere. «Sie sehen, dass Leute aus andern Krisengebieten mehr Rechte haben. Was den Leuten zuerst einfällt: Könnte es an der Hautfarbe liegen? Oder am Herkunftsland?»
Gründe für diese unterschiedliche Behandlung sieht Miriam Behrens zum einen in der geografischen Nähe der Ukraine. Aber nicht nur. Der politische Wille sei ganz unterschiedlich: «Wir erinnern uns an Afghanistan, wo der Bundesrat letztes Jahr von Anfang an kommuniziert hat, er wolle keine zusätzlichen Personen aus Afghanistan aufnehmen. Jetzt sagt man: Die Grenzen sind offen, es braucht kein Visum.»
Nächstenliebe und Menschenliebe sind immer kulturell geprägt.
Ungleiche Solidarität, ungleiche Rechte für Flüchtlinge – eigentlich nichts Neues, sagt Historiker André Holenstein von der Universität Bern. Ähnlich solidarisch sei die Schweiz beim Ungarn-Aufstand 1956 und beim Prager Frühling 1968 gewesen. Ereignisse, die grosse Flüchtlingswellen ausgelöst hatten. Eine Rolle spiele, dass Osteuropa in unserem Kulturkreis sei: «Nächstenliebe und Menschenliebe sind immer kulturell geprägt.»
Doch die grosse Solidarität jetzt biete auch eine Chance, sagt Miriam Behrens von der Flüchtlingshilfe: «Bevölkerung und Politik sind sensibilisiert. Vielleicht schaut man jetzt auch die andern Flüchtlingsgruppen an und kann dort Verbesserungen erreichen.»