Worum geht es? In der Medizin ist die Urteilsfähigkeit grundlegend. Nur eine urteilsfähige Person kann einer medizinischen Behandlung zustimmen. Nur: Wie und wo stellt man diese Urteilsfähigkeit fest? Neu gibt es dazu Richtlinien von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).
Wie misst man die Urteilsfähigkeit? Die Autoren der SAMW machen die Urteilsfähigkeit im Wesentlichen an vier Kriterien fest. Dazu gehört zum Beispiel die Erkenntnisfähigkeit, also ob jemand imstande ist, Informationen zum eigenen Gesundheitszustand zu erfassen und zu entscheiden.
Aber es gehe um mehr als nur das Kognitive, sagt SRF-Wissenschaftsredaktorin Irène Dietschi. Genauso wichtig seien emotionale Faktoren: «Wie werte ich Informationen, die ich von Gesundheitsfachleuten bekommen habe? Bin ich als Patientin imstande, aufgrund dieser Informationen und meinen eigenen Wertvorstellungen einen Entscheid zu fällen? Und kann ich diesen Entscheid auch kommunizieren?» All diese Fragen spielten neu eine Rolle, erklärt sie.
Wie ging man bisher vor? Laut der Zürcher Medizinethikerin Nikola Biller-Andorno, die die neuen Richtlinien massgeblich mitverfasst hat, waren die Abklärungen bisher mehr oder weniger eine Blackbox. In vielen Spitälern sei es oft so abgelaufen, erklärt Dietschi: «Man hat einen Kurztest gemacht für das Kognitive. Dabei lässt man die Patienten in Siebenerschritten von 100 rückwärts zählen. Aber die anderen Faktoren hat man häufig gar nicht berücksichtigt.»
Jemand mit einer frühen oder mittleren Alzheimererkrankung zum Beispiel kann durchaus noch urteilsfähig sein.
Das heisst, bisher war weitgehend unklar, wer einen Patienten nach welchen Kriterien für urteilsunfähig erklärte. «Dabei ist das ein massiver Eingriff in die Persönlichkeitsrechte von Patienten. Jemand ist prinzipiell urteilsfähig, und plötzlich wird ihm das Heft aus der Hand genommen.»
Wird die Selbstbestimmung nun höher gewichtet? «Davon gehe ich aus», sagt Dietschi. Die neuen Richtlinien seien insbesondere bei psychiatrischen Erkrankungen sehr wirksam. «Jemand mit einer frühen oder mittleren Alzheimererkrankung zum Beispiel kann nämlich durchaus noch urteilsfähig sein.» Vielleicht scheitere die Person an den Siebenerschritten von 100 rückwärts. «Aber sie kann zum Beispiel ein Veto dagegen einlegen, ins Spital eingeliefert zu werden.» Gerade bei einer älteren Person sei die Gefahr gross, dass andere über ihren Kopf hinweg entscheiden. Dies soll sich mit den neuen Richtlinien ändern.
Wo hört die Selbstbestimmung auf? «Sie hört dort auf, wo die medizinische Fürsorge auf dem Spiel steht», hält die Wissenschaftsredaktorin fest. «Stellen Sie sich eine alkoholisierte Velofahrerin vor, die nach einem Sturz vom Velo in den Notfall eingeliefert wird. Sie hat keinen Helm getragen und ist bewusstlos. Wenn diese Patientin aufwacht und sagt, sie wolle keine neurologische Abklärung, dann ist die Fürsorge wichtiger als die Selbstbestimmung.»
Entscheidet der Arzt allein über die Urteilsfähigkeit? Das können laut den Richtlinien auch andere Gesundheitsfachpersonen, etwa Pflegende oder Physiotherapeuten. «Wichtig ist, dass bei der Abklärung neu ein Dokumentationsbogen benutzt wird», so Dietschi, «und der ermöglicht der verantwortlichen Person, systematisch statt aus dem hohlen Bauch heraus vorzugehen.» Und der Patient könne später nachvollziehen, warum wie entschieden wurde.