Der Untersuchungsbericht zum grössten Missbrauchsskandal der Schweizer Kapuziner stellt schwerste Versäumnisse von Kirche und Orden fest. Daniel Pittet (59) hatte den hundertfachen sexuellen Missbrauch durch einen Mönch mit seinem Buch «Pater, ich vergebe Euch!» 2017 öffentlich gemacht. Die Kirche habe aus den Fehlern gelernt, meint er. Doch auch Sport- und Musikvereine müssten ihre Hausaufgaben machen.
SRF News: Daniel Pittet, Sie haben den Abschlussbericht der Untersuchungskommission gehört. Reisst das neue Wunden auf?
Daniel Pittet: Nein, denn ich habe nichts Neues erfahren. Die Kirche steht zu ihrem Fehlverhalten. Wir haben jetzt die Hoffnung, dass es besser wird. Aber natürlich gibt es nach wie vor Pädophile in der Kirche. Klar ist aber auch: Die meisten Missbrauchsfälle finden im familiären Umfeld statt. Da müssen wir genauer hinschauen.
Der Bericht stellt fest: Hätte die Kirche die vielen Alarmzeichen ernst genommen, wären viele Buben nicht vergewaltigt worden. Wie gehen Sie damit um?
Für mich ist das ein Schock. Denn Leid hätte verhindert werden können. Es sind sehr viele Menschen missbraucht worden. Viele trauen sich nicht, sich als Opfer zu outen. Sie haben oft ein schweres Leben, sind tief traumatisiert. Sie fühlen sich schlecht, fragen sich: ‹Warum haben wir nicht Nein gesagt? Warum waren wir so schwach?› Seit 20 Jahren bin ich in psychiatrischer Behandlung, die Arbeit ist noch nicht abgeschlossen. Missbrauchsopfer wie wir, die gibt es millionenfach in der Welt.
Glauben Sie den Worten, Kapuziner und Kirche hätten aus den vielen Missbrauchsfällen gelernt?
Ich hoffe – auch wenn mir klar ist, dass es noch ungeklärte Missbrauchsfälle gibt. Die müssen aufgeklärt werden. Aber sonst bin ich optimistisch: Papst Benedikt hat viel gegen den Missbrauch unternommen, auch Papst Franziskus.
Papst Benedikt hat viel gegen den Missbrauch unternommen, auch Papst Franziskus.
Ich finde die klare Ansage gut: Null Toleranz, das heisst: Wer übergriffig ist, kommt ins Gefängnis. Pädophile müssen Angst haben, damit sie nicht ihr Unwesen treiben können. Und sie müssen Hilfe angeboten bekommen. Sie sollten Therapien nutzen.
Sie sind der römisch-katholischen Kirche treu geblieben und haben Ihrem Schänder sogar verziehen. Warum?
Weil ich klar trenne zwischen gutem Priester und krankem Mann. Der Kapuziner, der mich jahrelang vergewaltigt hat, konnte wunderschön über die Muttergottes predigen. Das war seine gute Seite.
Ich bete jeden Tag für ihn und hoffe, dass er sein Leben mit Gott arrangieren kann, wenn er in den Himmel kommt.
Das Gewaltvolle war seine schlimme Seite. Ich bete jeden Tag für ihn und hoffe, dass er sein Leben mit Gott arrangieren kann, wenn er in den Himmel kommt.
Die Kirche hat ihre Hausaufgaben gemacht, finden Sie. Was gibt es jetzt noch zu tun?
Man spricht viel über Priester, aber die meisten Missbrauchsfälle finden im familiären Umfeld statt: 80 Prozent in der Familie, 19 Prozent in Sport- und Musikvereinen. Die Kirche trifft nur ein Prozent. Ich habe fast 20.000 Briefe und E-Mails bekommen. Unter den Briefen war kein einziger, der vom sexuellen Missbrauch durch einen Priester berichtete. Wir müssen also stärker das familiäre Leben und das Vereinsleben in den Blick nehmen.
Wen meinen Sie mit «wir»?
Jeder ist hier in der Pflicht, denn die Opfer sind oft verängstigt und traumatisiert. Da braucht es manchmal 40, 50 Jahre, bis sie zu reden anfangen. Dann ist es aber zu spät – für andere Opfer, aber auch für eine Verurteilung des Täters. Wir müssen jetzt schon wachsam sein.
Das Interview führte Raphael Rauch.