Heute entscheidet sich der Bundesrat in der Schweiz für eine der beiden Ausstiegsvarianten aus der Pandemie: Damit steht das Ende aller Corona-Massnahmen möglicherweise kurz bevor. Vielerorts ist in diesem Zusammenhang von einem politisch geprägten Anglizismus die Rede: dem sogenannten «Freedom Day». Der Begriff sei nicht unproblematisch, erklärt Professor Peter Stücheli-Herlach.
SRF News: Welche Problematik sehen Sie hinter der Verwendung des Begriffs «Freedom Day»?
Peter Stücheli-Herlach: Man sollte genau nachforschen, wie es zum Gebrauch des Schlagworts gekommen ist. In Grossbritannien kommt es der bedrängten Regierung von Boris Johnson gelegen. Sie versucht, die Brexit-Euphorie künstlich zu verlängern und im Parteienwettstreit von der Corona-Bekämpfung zu profitieren. Der Ursprung geht auf den US-amerikanischen «Freedom Day» und damit auf die Befreiung von der Sklaverei zurück.
Wie beurteilen Sie die Wichtigkeit der Wortwahl in den Medien?
Es ist ein prägnantes Beispiel, wie Öffentlichkeit und Demokratie durch den Sprachgebrauch organisiert werden. Wir kommen ohne Schlagworte nicht aus. Mit ihnen managen wir die knappe Aufmerksamkeit, meistern die Zwänge medialer Formatierung und steuern soziale Medien, etwa durch den Gebrauch von Hashtags. Wer könnte und möchte auf all das verzichten?
Die Gefahr ist, dass die Diskurse nur reflexartig, kurzfristig und kurzsichtig gestaltet werden.
Die Gefahr ist, dass die Diskurse nur reflexartig, also kurzfristig und kurzsichtig gestaltet werden. Medienschaffende und Medienkonsumierende benötigen deshalb mehr als nur das berühmte «Sprachgefühl»: Sie müssen sich mit der Macht der Diskurse auch kritisch auseinandersetzen.
Inwiefern wird der Begriff in der Schweiz von diversen Parteien polarisierend aufgegriffen?
Der Ruf nach einem Schweizer «Freiheitstag» ist von Gewerbeverband und Rechtspolitikern lanciert worden. Ich sehe hier Medienschaffende in der Pflicht, solche Sprachstrategien nicht nachzuäffen, sondern sie zu erkennen und in die relevanten Zusammenhänge zu stellen.
Ich sehe Medienschaffende in der Pflicht, solche Sprachstrategien nicht nachzuäffen.
Sollte sich die Schweiz als neutrales Land gegen den Begriff «Freedom Day» stellen oder lässt sich dessen Verwendung ohnehin nicht verhindern?
Nein, so etwas kann und soll nicht verhindert werden. Die Rede-, Meinungs- und Medienfreiheit darf nicht beschränkt werden, nur weil es einem einmal nicht passt. Auch die Wahl von Kommunikations- und Sprachstrategien ist frei, sofern diese sich im legalen Bereich bewegen.
Wichtig ist, dass Akteure, die an einem demokratischen Dialog interessiert sind, die Diskurse sorgfältig beobachten, sodass sich alle orientieren und auch ihre gegensätzlichen Positionen wirkungsvoll vermitteln können.
Ist der vom Bundesrat vorgeschlagene «Freudentag» der passendere Begriff?
Es ist nicht Aufgabe der Regierung, hoheitliche Labels für gesellschaftliche und politische Ereignisse zu kreieren, und auch nicht, einen neuen Awareness-Tag ins Leben zu rufen. Einzelnen Amtsträgerinnen und Amtsträgern soll es allerdings gegönnt sein, nach Jahren höchster Belastung auch einmal der persönlichen Freude Ausdruck zu verleihen.
Es ist nicht die Aufgabe der Regierung, hoheitliche Labels für gesellschaftliche und politische Ereignisse zu kreieren.
Die politische Energie brauchen wir dafür, Lehren aus Pandemie zu ziehen und uns den immer noch anstehenden Herausforderungen zu stellen.
Das Gespräch führte Antonia Jochberg.